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Crucifixus etiam pro nobis
Die Ursprünglichkeit des «pro nobis»
Die Formel, daß Jesus Christus «für uns» gelitten hat, durchzieht alle neutestamentlichen Schriften, und mit Sicherheit ist nachgewiesen, daß der Gedanke der sühnenden Stellvertretung dieses Leidens, der sich in dieser Formel ausdrückt, vorpaulinisch ist. Die älteste faßbare Formulierung des urchristlichen Glaubens: 1 Kor 15,3-5, enthält sie bereits: nach dem Glauben, den Paulus selbst von der apostolischen Kirche empfing, ist «Christus gemäß der Schriften für unsere Sünden gestorben». Die Formel ist so allgegenwärtig, daß sie nicht als bloße Ausprägung einer «späten Christologie» relativiert werden kann, die eine «Überstrapazierung» des am Kreuz tatsächlich Geschehenen bedeuten würde. Man beachte auch, daß das Credo «etiam» einfügt, weil es bereits die Menschwerdung Christi als den Anfang des einen, mit Kreuz und Auferstehung endenden Heilsgeschehens «für uns» auffaßt: «Qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit de coelis», ein Satz, der sich zumindest auf die johanneische Christologie stützen kann. Wenn die Inkarnation die Einleitung des Erlösungsereignisses ist, so ist sie, nach allen östlichen und westlichen Kirchenvätern, innerlich bereits auf das Kreuz hingeordnet. Und dies nicht so, wie manche Theologen heute ansetzen, daß die Kreuzigung Jesu zwischen zwei Verbrechern nichts anderes gewesen wäre als der logische Abschluß der immer schon von ihm eingenommenen Haltung, sich - zum Ausdruck des vollkommenen Vergebungswillens Gottes - mit Zöllnern, Dirnen und Sündern überhaupt zu solidarisieren und an einen Tisch zu setzen, sondern so, daß die Passion vom öffentlichen Leben durch eine überall deutliche Zäsur getrennt ist: sie ist der Inhalt der «Stunde», auf die Jesus hinlebt, die «noch nicht gekommen» oder dann endlich «gekommen» ist, die «Taufe», mit der Jesus getauft werden muß und die er als das Entscheidende seines Daseins bangend herbeisehnt, die «Stunde» auch, auf die Paulus allein setzt, der (deutlicher als alle andern) alles übrige als bloßes Vorspiel dazu erachtet.
Die Deutung des Kreuzes als «für uns», «zu unsern Gunsten», schließlich «an unserer Stelle» erlitten ist zweifellos vom großen Gottesknechtslied Jesaja 52-53, das ein halbes Jahrtausend von den Juden unbeachtet liegengelassen worden war, ausgelöst worden, nachdem durch kurze Zeit provisorische, fragmentarische Lösungen für das quälende Scheitern Jesu gesucht worden waren: Erhöhung des gehorsamen Knechtes zum Herrn, ausdrücklicher Wille Gottes («mußte nicht …»), aber diese Fragmente integrierten eigentlich erst in der bei Jesaja vorgezeichneten, nun endlich zu historischer Erfüllung gelangten Gestalt, zumal erst von ihr aus der totale Einsatz Jesu in seinem öffentlichen Leben und seine rätselhafte Vollmacht aufgehellt werden konnten. Mit tiefem theologischen Recht durften deshalb die Evangelisten den Zusammenhang zwischen diesem Einsatz Jesu in Vollmacht und seiner Ausrichtung auf die «Stunde» in ihren Bericht einzeichnen, mit stärkeren Strichen vielleicht, als die ausdrücklichen Aussagen Jesu über seinen Auftrag als solche erlaubt hätten.
Wir wollen hier einen heute mehrfach vorgebrachten Einwand bedenken. Hat Jesus nicht von Anfang seiner Verkündigung an das bedingungslose Verzeihen Gottes für den ihm Glaubenden, sich ihm Anvertrauenden gepredigt - zum Beispiel in der Parabel vom verlorenen Sohn -, hat er nicht (wir dürfen es trotz Bedenken einiger Exegeten festhalten) im voraus Sünden verziehen, ohne daß gesagt wurde, diese Vergebung sei an die Leistung einer noch ausstehenden Sühne geknüpft?
Darauf ist ein Mehrfaches zu erinnern. Erstens ist das bedingungslose Verzeihen Gottes nur dann für den Sünder wirksam gegenwärtig, wenn auch er sich selbst bedingungslos Gott übergibt, das heißt sich bekehrt, um Gottes Gesinnung in sich aufnehmen und widerspiegeln zu können: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir …» und die Parabel vom Schalksknecht. Mattäus urgiert diese Gegenseitigkeit: «Wenn ihr aber den Menschen nicht verzeiht, so wird auch euer Vater eure Vergehen nicht verzeihen» (6,15). Jesus fordert den Glauben oder lobt ihn ausdrücklich, wo er ihn vorfindet. Der Gedanke an das Gericht taucht jeweils dort auf, wo der Mensch der angebotenen Gnade ins Angesicht widersteht (Sünde wider den Hl. Geist: Mt 12,31; Nichtunterscheidung des eucharistischen Leibes Christi: 1 Kor 11,29; Vergeudung der schon erhaltenen Gnade: Hebr 6,4ff.; schließlich Verstockung Israels, seine Verwerfung des Messias: Lk 20,16 usf.). Zweitens wäre die Annahme unsinnig, daß Jesus denen, die er (zumal aus Israel) bekehren sollte, von vornherein angekündigt haben könnte, sie würden sich nicht bekehren. Sein Auftrag war, das Gnadenangebot Gottes in Wort und existentieller Haltung zu verkünden und dies innerhalb menschlicher Möglichkeiten, die auch für ihn endlich waren; er hatte außerdem zunächst die Rolle des Messias Israels zu spielen, des Volkes, durch dessen Vermittlung die übrigen Völker zum Heil gelangen sollten, so daß seine aktive Sendung sich nur indirekt und sekundär (Mt 15,21ff.) auf die Heiden erstreckte, obschon sie als ganze Sendung von vornherein universal war, da «Gott durch Christus die Welt mit sich versöhnen wollte» (2 Kor 5,19). Drittens ist an manchen Drohworten Jesu (wie denen an die ungläubigen Städte Mt 11,20-24) durchaus ersichtlich, daß er von vornherein hinter der Abweisung des Heilsangebotes Gottes das Gericht sieht, und zwar ein auf diese und die künftige Welt sich erstreckendes (Mt 12,32). Deshalb konnte er nicht anders, als angesichts seiner universalen Sendung auch den Gedanken zu fassen, mit diesem Gottesgericht in seiner Person während seines endlichen Lebens zurande kommen zu müssen: dieser Gedanke muß ihn früher und tiefer beschäftigt haben, als der - wie manche Exegeten meinen -, ihm erst gegen Ende seines öffentlichen Lebens zur Gewißheit werdende: daß das unbekehrte Volk ihn aller Wahrscheinlichkeit nach einem leiblich grausamen Tod ausliefern würde. Nicht beim Faktum des Scheiterns seiner irdischen Sendung knüpft er an, wenn er sich (spätestens) beim Abendmahl dem stellvertretend leidenden Gottesknecht gleichsetzt («der Leib, der für euch preisgegeben wird» Lk 22,19, «mein Blut des Bundes, das für alle vergossen wird» Mt 26,28), sondern an das Bewußtsein der Universalität seiner Sendung. Diese erscheint ja immer schon darin, daß er mit dem Anspruch auftritt, nicht ein, sondern das Wort Gottes an die (Gesamt-)Welt zu sein. Dieses Bewußtsein allein kann seine Verwerfung durch Israel und tiefer noch: Israels Verwerfung unterfassen, stirbt er doch schließlich «nicht bloß für das Volk, sondern auch um die verstreuten Kinder Gottes zu sammeln» (Joh 11,52), was man auch umgekehrt sagen könnte: «… sondern auch für das Volk». Das erlaubt dann Paulus, seine Heilsgewißheit in bezug auf «ganz Israel» auszudrücken (Röm 11,26).
Von hier aus wird man sagen, daß das «pro nobis», das alle Schichten des Neuen Testaments, so wie es uns vorliegt, durchzieht, keine erst anläßlich der Lektüre von Jes 53 von der Urkirche gemachte und in das vorösterliche Leben und Bewußtsein Jesu zurückprojizierte Erfindung sein kann. Der Gedanke beherrscht sicherlich die frühen Fassungen der Passionsgeschichte, und um ihretwillen ist, als Vorbau, das übrige Leben Jesu für die Kirche von aktuellem Interesse gewesen. Wenn aber die kirchliche Deutung des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu unter diesem Vorzeichen richtig ist, dann muß auch ein Bewußtsein Jesu davon bestanden haben. Bei diesem heute in verschiedener Weise in Frage gestellten Punkt muß noch etwas verharrt werden.
Jesu Bewußtsein des «pro nobis»
Zunächst ist an Jesu Bewußtsein seiner Existenz «für die andern» (K. Barth), oder wie man heute schon technisch sagt, seiner Pro-Existenz (H. Schürmann) nicht zu zweifeln. Radikaler als irgendein Prophet, der neben seinem Prophetenauftrag noch eine Existenz für sich leben konnte, ist er in seine Sendung hinein enteignet. Sein Dasein und sein Wort decken einander. Sagt man, er habe die unbedingte Heilszuwendung Gottes zu verkünden, so heißt das, exakter gesprochen, daß er in seinem ganzen Dasein dieses unbedingte Für-uns-sein Gottes darzustellen hat. Und zwar über die Stufe des Alten Bundes hinaus, wo Jahwe sich schon so endgültig für Israel entschieden hatte, daß auch die unerhörten Strafen, die das Volk im Fall seiner Untreue trafen, ein Zeichen der Bundestreue Gottes war: «Wenn wir ihn verleugnen, wird er auch uns verleugnen, wenn wir treulos sind, er bleibt treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen» (2 Tim 2,12f.). Hier schlägt Gott noch gleichsam zurück, wenn er geschlagen wird; aber die Anweisung Jesu, die Gottes neue und letzte Haltung ausdrückt, geht auf das Nichtzurückschlagen, auf eine letzte Wehrlosigkeit. Wer ein solches Für-sein lebt, ist in dieser Welt von vornherein geliefert.
Jesu Pro-Existenz bleibt aber auch noch weitgehend mit dem alttestamentlichen Schicksal der Gottesboten vergleichbar, deren Berufungen für die höhere Berufung Jesu von großer Bedeutung bleibt. Jesaja wird unmittelbar bei seiner Sendung vorausgesagt, daß er durch seine Verkündigung das Herz des Volkes verstocken, daß er seine Augen blind und seine Ohren taub machen wird. Jeremia und Ezechiel wird genau das Gleiche angesagt, und Jesus, der diese Worte Gottes an Jesaja selbst anführt, reiht sich damit in die Reihe der Propheten und ihres scheiternden Sterbens ein (Lk 13,33). Warum sollte er, der ein radikaleres Für-sein Gottes darzuleben hatte, nicht von vornherein - auch im Eifer der Ausführung seines Bekehrungsauftrags - um sein Scheitern gewußt haben? Es ist keineswegs nötig, hier von einem «doppelten Bewußtsein» zu sprechen. Man kann sich durchaus mit allen Kräften, auch mit den Kräften der Hoffnung, für ein Werk einsetzen, von dem man im letzten weiß, daß es undurchführbar ist. Wie hätte sich denn das konkrete Israel überhaupt anders bekehren können als in den flüchtigen Anwandlungen, deren der Sündermensch ohne die volle und letzte Gnade Gottes fähig ist?
Aber Jesu Darstellung des Für-uns-Seins Gottes geht, wie gesagt, erheblich weiter als das Wort und die Existenz der Propheten. Nur in einer Art Vorentwurf eines Über-Propheten, dem des «Gottesknechts», wird vorweg sichtbar, in welcher Richtung die Transzendenz liegen wird: in der Richtung des «Für» als Stellvertretung. Genau an die Stelle des Neinsagenden, seines Unglückes und Absturzes, muß der hintreten, der ganz für ihn sein will.
Eine wachsende Zahl von Theologen weigert sich, diesen Gedanken ernstzunehmen. Manche sagen, solche Stellvertretung sei von vornherein unmöglich, weil schließlich jeder nur aus dem Zentrum seiner eigenen Freiheit heraus zu Gott Ja sagen kann. Und außerdem, weil es keinerlei Analogie dafür gebe, wie einer nicht nur äußerlich für andere sterben (dafür gibt es Beispiele genug in der Weltgeschichte und Weltliteratur, zum Beispiel bei Euripides), sondern das Schuldigsein des andern ihm innerlich abnehmen kann. Aber gibt es unter Menschen nicht wenigstens Annäherungen an dieses Geheimnis, gerade in jener Vergebung dem Schuldigen, die Abglanz und Antwort auf das radikale Begnaden Gottes ist? Andere wollen das «für uns» als die rein äußerliche Übernahme der Stellung eines durch das Gesetz «Verfluchten» (gemäß Gal 3,13) und des «Schandtodes» Sterbenden verstehen - auch Paulus habe im Grunde nicht mehr als das sagen wollen, und die alttestamentlichen «Opfer-» und «Sühne-»Ausdrücke seien bei ihm lediglich literarische Reminiszenz. Noch andere möchten (in der Linie von René Girard) die Stellvertretung lediglich als ein Abladen der Sünden durch die Menschen auf den «Sündenbock» Jesus sehen, während Gott mit diesem Vorgang nichts zu tun hätte: nicht er wäre es dann, der Jesus die Schuld der Welt aufbürdet (wie aber dann 2 Kor 5,21 deuten: «Gott hat ihn für uns zur Sünde gemacht»?), sondern die Menschheit (aber wie wäre sie dazu befähigt?).
Alle diese Abmilderungen werden dem Realismus der neutestamentlichen Aussagen nicht gerecht, die, auch abgesehen vom Opfer- und Sühne-Vokabular, das Idealbild des Über-Propheten in Jesus voll verwirklicht sehen wollen. Lassen wir die Frage, wie eine Übernahme und ein «Wegtragen» der Weltschuld möglich sei, für den Schlußabschnitt; bleiben wir einstweilen noch beim Bewußtsein Jesu. Wir dürfen von vornherein zweierlei behaupten: daß ihm das Daß einer solchen Aufgabe bewußt sein mußte, aber daß ihm ebenso das Wie ihrer Lösung notwendig verborgen blieb: es ist von außerhalb der Erfahrung selbst her unvorstellbar.
Der erste Satz ist entscheidend wichtig. Es ist nämlich nicht möglich, daß Jesus etwas, vielleicht auch etwas Bedeutendes leidet, und daß Gott - gleichsam nachträglich - findet, dieses Bedeutende genüge zur Versöhnung der Welt mit ihm. Nicht als ob Jesus - im Leiden oder vor diesem - die Übersicht darüber haben könnte, daß das Erlittene die Sünde der Welt «aufwiegt»; dieses Urteil wird vor und im Leiden völlig Gott anheimgestellt, dem er als das «Lamm Gottes» gefügig gehorcht. Aber ebensowenig darf der subjektive Zusammenhang zwischen dem Leidenden und dem Sinn seines Leidens völlig fallengelassen werden. «Ich muß mit einer Taufe getauft werden …» kann nur heißen, daß er diese unvorstellbare Taufe als zu seinem Auftrag - und der ist die Versöhnung der Welt mit Gott - gehörig versteht. Dies ist unbedingt aufrechtzuerhalten, auch dann (und um so mehr), wenn gerade in der «Stunde» und der «Macht der Finsternis» (Lk 22,52) für Jesus die Sicht des Zusammenhangs verschwindet, weil jetzt das, wofür er leidet, nicht mehr außerhalb seiner ist, sondern mit seiner Wirklichkeit innen in ihm. Beides, das Wissen des Für-Leidens und Für-Sterbens und die Sichtlosigkeit (und damit wohl auch das Gefühl eines Scheiterns in die Sinnlosigkeit: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?») gehört zusammen, muß um jeden Preis gleichzeitig gewahrt werden. Das gehört zum Mysterium dessen, der sich mit dem ganzen Wort Gottes identifizieren durfte, in dem deshalb (als dem Logos) auch die ganze Welt geschaffen ist und von Gott verantwortet wird. Die in den scholastischen Theorien herumgeisternde Ansicht, Gott hätte auch einen gewöhnlichen Menschen oder einen Engel bestellen können, um das Werk der Sühne zu leisten, ist unerträglich und absurd.
Man kann den notwendigen Zusammenhang zwischen dem subjektiven Bewußtsein Jesu von seiner Stellvertretung und deren objektivem Wen auch vom Abendmahlsgeschehen her deutlicher machen: Niemand als er war imstande, seinen «für uns und die vielen» preisgegebenen Leib, sein «für uns» vergossenes Blut an alle Welt auszuteilen, wenn er um den Sinn seiner kommenden Passion nicht gewußt hätte. Hier vollzieht sich realiter das, was die Väter das «sacrum et admirabile commercium», den heiligen und wunderbaren Tausch nennen: indem er uns das Unsrige, unsere Schuld «in seinem Fleische» (Eph 2,14) wegnimmt, gibt er uns anstelle ihrer sein Fleisch. Dies Geschehen erfolgt nach Johannes an der Grenze zwischen dem genauen Bewußtsein, bis ans Ende der Liebe zu gehen (13,1) und dem schon beginnenden «Verstörtsein» (12,27; 13,21), worin Jesus die Übersicht über das Geschehen verlieren muß, um die Finsternis durchzuleiden.
Es wäre falsche Neugier, wollte man zu wissen versuchen, wann das Bewußtsein von der ihn erwartenden Stunde in Jesu Leben genaue Umrisse gewonnen hat. Von den äußeren Ereignissen - der Unausweichlichkeit seiner Verwerfung - her es konstruieren zu wollen, ist aussichtslos. Bei Markus wird schon zu Beginn des 3. Kapitels beratschlagt, wie man Jesus beseitigen könne. Niemand kann beweisen, daß Jesus erst gegen Ende seines Lebens, gar erst beim letzten Mahl die Unausweichlichkeit der Stunde erfahren hat. Sind doch schon alle seine Worte und Taten so exponiert gewesen, daß da hinter der Einsatz der ganzen Existenz, die Bereitschaft, für die Wahrheit «in Goldwährung zu zahlen», spürbar ist. Und ohne Zweifel hat der Umfang seiner Gesamtsendung - die Welt mit Gott zu versöhnen - immer schon vor seinem inneren Auge gestanden (sein Menschsein ist ja mit dieser Sendung identisch), wie sehr hier auch immer tiefere Einweihungen und Verdeutlichungen erfolgt sein mögen.
Die in der Passion erfolgte Verdunkelung ist kein Rückschritt in seinem Bewußtsein, sondern der notwendige letzte Fortschritt in die volle Durchführung des Auftrags hinein. Denn wenn es wirklich um ein «Tragen der Sünde» ging, so nicht um das äußere Schleppen einer schweren Last, sondern um eine innere Erfahrung dessen, was Sünde in Wahrheit, nämlich in der Sicht Gottes, ist: «Verlust der Herrlichkeit Gottes» (Röm 3,23), des Zugangs zu ihm durch Glaube, Hoffnung, Liebe, ein Stehen vor Gott, das die Schrift beschreibt als ein, Stehen vor dem «Zorngericht» (Röm 3,5 u. oft). Die Erfahrung dieses Zorngerichts hat, wegen der Verbergung von Hoffnung und Liebe, etwas Endgültiges, Ewiges an sich. Ein Johannes vom Kreuz hat es, wie viele andere, die etwas von der Kreuzeserfahrung Jesu nachzuerleben bekamen, in seiner «Dunklen Nacht» als eine höllenähnliche Erfahrung geschildert, gerade was die Endgültigkeit des Verlorenhabens Gottes betrifft. Natürlich kann der Heilige, dem diese Stellvertretungserfahrung aufgeladen wird, in einem solchen Zustand nicht sündigen, nicht einmal straucheln, weil alles eine Funktion seines Gehorsams und seiner Liebe ist; niemand ist von Gott behüteter als der durch diese Kreuzesnacht Hindurchgeführte. Aber er muß die Erfahrung einer schlechthinigen Überforderung machen: das Widergöttliche in sich zu tragen ist dem vollkommen Gottverbundenen scheinbar «unmöglich»; er trägt das Untragbare (die Ölbergsbitte zeigt es deutlich), er kann es deshalb nur jenseits all seiner Kräfte an sich geschehen lassen («aber nicht mein Wille, sondern der deine»).
Nun ersieht man, wie theologisch unmöglich eine heute verbreitete Theorie ist, Christi Leiden am Kreuz seien für die Erlösung unerheblich gewesen (bloßes Erleben der einmal übernommenen conditio humana), es sei lediglich auf eine vollkommene Selbstübergabe an Gott in seinem Tod angekommen, in der sich die Selbstübergabe jenes Menschen vollendet habe, in den hinein Gott in seinem Willen, sich der Welt hinzugeben, sich restlos dahingab, um Mensch werden zu können. Die Selbsthingabe des sterbenden Jesus sei dann als das Quasi-Sakrament anzusehen, durch das Gott seine immer schon bestehende Versöhntheit mit der Welt letztlich («final») ausdrücken wollte. Eine solche rationalistische Konstruktion geht an allen biblischen und in der theologischen Überlieferung versuchten Deutungen des Stellvertretungsmysteriums achtlos vorbei.
Aber noch bleibt die große Frage unbeantwortet, wie denn Stellvertretung, also Eingehen des Heiligen an den geistigen Ort des Sünders überhaupt vorstellbar sei.
Das Wie des «pro nobis»
So beredt und kategorisch bejahend die Lieder vom «Gottesknecht», Paulus, Johannes, auch die Synoptiker, auch das späte Judentum, das an eine sühnende Kraft des Leidens des Gerechten glaubte, in bezug auf die Tatsache sind, so ehrfürchtig umschweigen sie das Wie der Schuldübertragung. Und doch gibt es ein tiefes menschheitliches Wissen um die Möglichkeit von Stellvertretung gerade im Tod - man denke an die Admetsage, worin Alkestis durch ihre Bereitschaft, stellvertretend zu sterben, ihrem Gatten das Leben erhält, denke auch an alle als stellvertretend gedachten Menschenopfer. Das sind äußerliche Umkreisungen, die nur erinnern sollen, daß sie durch ihr Suchen ein zentrales, im letzten nicht aufhellbares Geheimnis ahnen.
Die Geschichte zeigt, daß diese Mitte von vielen Seiten angenähert worden ist. Die Väter zunächst sprachen, wie schon erwähnt, von einem «Tausch» zwischen dem sündelosen Gottessohn und dem sündigen Menschen, aber sie wagten die letzten Folgerungen nicht zu ziehen und den Allreinen mit der Sphäre der Sünde in innern Kontakt zu bringen. Deshalb pflegten sie das Schriftwort «Gott hat ihn zur Sünde gemacht» zu erklären durch: «zum Opfer für die Sünde», so wie der Alte Bund «Sündopfer» kannte.
Anselm hat diese Ansätze systematisiert und damit die «klassische», bis in unser Jahrhundert gültige Erlösungstheorie geschaffen, eine Theologie, die viel subtiler ist als die meisten, die heute gegen sie polemisieren, wissen. Sehr genau sieht Anselm, daß dieses Versöhnungswerk nicht von einem beleidigt-zürnenden Gott-Vater ausgeht, der seinen Sohn zur Wiederherstellung seiner eigenen Ehre opfert, sondern ein reines Werk der Liebe Gottes ist, sowohl des Vaters wie des Sohnes. Aber dann stützt sich die Theorie auf zwei Hauptpfeiler: Gott muß zur Sühne und Wiederherstellung der gestörten Weltordnung etwas Freies, Ungeschuldetes dargebracht werden, und dies kann nur der Tod eines sein, der dem Todesgesetz, dem alle Sünder verfallen sind, nicht unterliegt, und der zweitens (als Gottessohn) eine solche Würde besitzt, daß sein kostbares Sterben alle Schuld seiner Mitmenschen aufwiegt. An dieser Theorie ist dies kritisierbar, daß Schuld und Sühneleistung einander äußerlich bleiben: sie liegen in zwei getrennten Waagschalen; die der Sühne sinkt, weil sie ob des Wertes der Person und des Einsatzes Christi mehr wiegt als alle Schuld der Welt. Thomas von Aquin wird den Versuch Anselms durch den Vätergedanken der organischen Verbundenheit Christi als des Hauptes mit der Gesamtmenschheit, seinem (potentiellen) Leib bereichern, aber wenn dadurch der Übergang vom «Verdienst Christi» auf die Sünder gleichsam geschmeidiger vonstatten geht, die Äußerlichkeit der Stellvertretung ist nicht letztlich überwunden.
Luther (als der radikalste), aber vor ihm schon manche Katholiken, und nach ihm sowohl Protestanten wie Katholiken, wollten mit der realen Stellvertretung ernstmachen und prägten die Formel, daß Christus an unserer Stelle von Gott «gestraft», ja als der Erzsünder mit eigentlichen «Höllenqualen» belegt wurde. Für Luther zumal ging es um die Radikalisierung des «wunderbaren Tausches»: Christus übernimmt die ganze Schande des «Hürleins» Seele oder Kirche, nach Calvin - dem hier noch K. Barth und auch Pannenberg und Moltmann folgen und zu dem die Nachfolger René Girards stoßen - wird Christus von Gott (oder von den Menschen) mit allen Sünden der Welt beladen und somit «verdammt».
Dies erscheint als ein anderes Extrem, das durch keinerlei Ausdruck der Schrift gerechtfertigt wird. Zwischen Anselm und Luther muß ein dritter Weg gesucht werden. Zwei Fragen stellen sich: eine von Christus aus, eine vom Sünder aus. Kann der ganz Reine den Zustand der Unreinheit, der Gottabwendung des Sünders erfahren, und zwar den des andern als den eigenen? Und kann dem Neinsager seine Weigerung so abgebaut werden, daß er innerlich zu einer Zustimmung gelangt?
Von Christus aus betrachtet, der seiner Aussage gemäß ganz aus seinem Liebesgehorsam zum Vater lebt, dessen Willen zu tun seine Speise ist, liegt - sofern wir dem trinitarischen Geheimnis seinen ganzen Raum lassen - kein Widerspruch darin, daß die Beziehung Gott-(sündige) Welt hineingenommen wird in die grundlegendere Beziehung Gott Vater-Gott Sohn, die ja die Voraussetzung dafür ist, daß Welt und endliche Freiheit überhaupt existieren (Joh 1,2; Eph 1,4ff.; Hebr 1,3). Dann kann - aus Liebe, nicht aus «Zorn» und deshalb nicht als «Strafe» - die Beziehung Vater-Sohn durch die Färbung Gott-Welt tingiert werden, kann die ewige Zuwendung zwischen Vater und Sohn den Modus der Abwendung, der Fremdheit in sich selbst aufnehmen und erlebbar machen, und diese Möglichkeit wäre dann die Voraussetzung dafür, daß Gott im Anfang die Erschaffung freier Wesen, die sich von ihm abwenden können, überhaupt riskieren und die Welt als «sehr gut» bezeichnen durfte. - Wieweit aber kann der Reine in die Gegenwelt des Unreinen eindringen, ohne das Nein zu Gott mitzuvollziehen? Bis in den Zustand, der das Ergebnis des Neinsagens ist, bis in eben jene Abwendung und Entfremdung, die als eine objektive Realität zwischen Gott und dem Sünder steht und beide affiziert. Und weil diese Entfremdung in die denkbar innigste Beziehung zu Gott hineingenommen ist, kann Bulgakow, den Ausdruck «Hölle» vermeidend, zu stammeln versuchen, es handle sich um «quelque chose d’incomparable et même de contraire aux souffrances des pécheurs», das aber doch eine «intensive Äquivalenz» zu deren Höllenqualen darstellt. A. Feuillet in seinem Werk über die Agonie von Gethsemani hat ganz ähnlich gesprochen, von biblischen Grundlagen ausgehend; denn der Kelch, von dem Jesus dort spricht, kann nur der «Kelch des Zornes Gottes» sein, und die «Stunde», von der die Rede ist, nur der alttestamentliche «Tag Jahwes».
Vom Sünder aus betrachtet, ist es fast noch schwieriger. Niemand kann ihm sein Ja oder Nein zu Gott abnehmen. Aber Gottes Verzeihen, die Zuwendung seiner zuvorkommenden Gnade, kann ihm ein Ja ermöglichen, es sogar als das einzig Mögliche erscheinen lassen, das der Neinsager von sich her nie aufzubringen vermocht hätte. Augustins Begriff der Gnade war vornehmlich der einer gratia liberatrix: der Gefesselte kann, auch geheißen, seine Hand nicht bewegen, der Losgebundene kann es, auch wenn er es nicht muß. Aber wahrscheinlich ist er froh, es zu können, wenn ihm zum Beispiel etwas Begehrenswertes hingehalten wird. Doch das spielt zwischen Gott und dem Sünder allein; wozu die Einschaltung der Stellvertretung des Kreuzes? Weil die Sünde kein Nichts, sondern eine Realität ist, und hier kann man auf Anselm lauschen, wenn er sagt, es wäre Gottes nicht würdig, ohne Mitwirkung der Freiheit des Menschen einfach von sich her zu verzeihen. Das wäre seit dem mit Israel geschlossenen Bund ohnedies unmöglich; der Bund ist zweiseitig. Und ist nicht schon die Schöpfung selbst (oder der Noachbund) ein solcher zweiseitiger Bund? Israel muß zu Gott schreien, damit Gott sich seiner erbarme. Aber kann denn der abgewendete Sünder von selbst sich umwenden, um zu Gott zu schreien? Hier muß einer, ein Mensch, für ihn eintreten, ein Mensch, der zugleich vor Gott die Last der Sünde und die Unschuld der Liebe verkörpert, damit die Barmherzigkeit Gottes sich von der davon untrennbaren Gerechtigkeit nicht zu entblößen braucht. Wenn Jesus den Schuldzustand eines Abgewendeten in sich trägt, so geschieht dies aufgrund einer letzten raumschaffenden Entleerung seines Herzens, einer Kenosis, in der die Schuld der Welt Platz gewinnt, in der aber Gott nichts anderes sieht als die äußerste Liebe des Sohnes: er erblickt also die reale Weltsünde innerhalb der realen Hingabe des Sohnes; er kann auch den Sünder nur noch durch diese Liebeshingabe hindurch ansehen. Der Sünder aber, mitsamt seiner Freiheit und Fesselung an diesen Ort versetzt, also nach Paulus «der Gewalt der Finsternis entrissen und hinüberversetzt in das Reich des Sohnes Seiner Liebe» (Kol 1,13), wird durch diese Vermittlung nicht seiner Unmittelbarkeit zu Gott beraubt, sondern in deren wahre Form zurückversetzt: aufgrund einer wahrhaft «göttlichen Mitmenschlichkeit», die die letzte Einheit des Liebesgebotes als Gottes- und Nächstenliebe erst im letzten begründet und ermöglicht, diese Einheit, die die Grundlage der gesamten Schöpfungsordnung und ihres Verhältnisses zu Gott ist. Sagt ein anderer als der Sünder an seiner Stelle zu Gott Ja? Ja und Nein. Ja, sofern mit dem umfassenden Ja Christi als Fundament für das Jasagenkönnen des Sünders gelegt wird. Nein, sofern die Rechtfertigung begrifflich von der Heiligung unterschieden bleibt, und das zustimmende Ja des Sünders zur angebotenen Gnade erwartet wird, damit diese ihn innerlich ergreife und in ihm ein Abbild der Bereitschaft Christi gestalte, der jeder Jasagende sich verdankt.
Was aber geschieht mit der Entfremdung, mit der Sünde? Sie ist oder war doch eine Realität? Soll man sagen, daß sie, aus der wirklichen Welt verbannt, in das vorweltliche «Chaos» zurückgeworfen wird, wo sie sich selber aufzehrt (und die Menschen «stehen in der Ferne, … wenn sie den Rauch von ihrer Qual aufsteigen sehen … von Ewigkeit zu Ewigkeit»: Apk 19,10.9; 19,3), oder soll man sagen, daß sie hineinverklärt ist in die ewigen Wundmale Christi, in seine ewig hinverteilte, hinvergossene göttliche Menschheit, seine nie zurückgenommene Eucharistie?

ハンス・ウルス・ フォン・バルタザール
原語タイトル
Crucifixus etiam pro nobis
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書籍説明
言語:
ドイツ語
原語:
ドイツ語出版社:
Saint John Publications年:
2025種類:
論文