menu
Der Mensch und das ewige Leben
Von der alten Sehnsucht und der neuen Genügsamkeit
Es ist etwas sehr Verwunderliches, ganz und gar nicht Selbstverständliches und sicher auch kein eindeutiges Zeichen des geschichtlichen Fortschritts, daß sich alle alten Völker so vielerlei Gedanken über das «Jenseits» gemacht haben, während der moderne Mensch sich sichtlich dafür kaum noch interessiert. Es ist, als sei ihm eine Sehne durchschnitten worden, so daß er nach dem früheren Ziel nicht mehr laufen kann, als seien ihm die Flügel gestutzt, sei in ihm das geistige Organ für die Transzendenz verkümmert. Woher mag das kommen?
Die alten Völker hatten ja durchaus auch ihre irdischen Interessen, sie bauten ihre Häuser, Paläste, Tempel, organisierten ihre Staaten, führten ihre Kriege, schrieben Geschichte und dichteten Epen und Dramen: aber alles das schien ihren Hunger nach Dasein und Tätigkeit nicht zu stillen, sie träumten von einem anderen, ewigen Leben. Dabei waren die Vorstellungen, die sie sich davon machten, äußerst mannigfaltig, nicht nur von Volk zu Volk, sondern auch innerhalb des gleichen Volkes; die Bilder vom Jenseits wechselten, widersprachen einander auch oft, aber nur höchst selten fehlten sie ganz. Wenn Fortleben – in welcher Weise auch immer – geleugnet wurde, dann zumeist von einzelnen Philosophen, die außerdem fast immer einer späten desillusionierten Epoche angehörten.
Es ist zugleich belehrend und rührend, sie aufzureihen, die Versuche dieser alten Völker, über die Mauern des vergänglichen Lebens hinauszublicken auf jenes geheimnisvolle Umgreifende hin, von dem niemand sich eine exakte Vorstellung machen kann. Wir haben, wenn wir diese Reihe abschreiten, irgendwo das Gefühl: An allen diesen Versuchen stimmt etwas, aber etwas anderes – vielleicht das meiste stimmt nicht. Wie jedoch das an jedem Bildversuch Stimmende mit den übrigen zusammengereimt werden kann, ist wiederum unersichtlich.
Weit verbreitet ist die Vorstellung eines schattenhaften Weiterlebens – soll man sagen: Vegetierens? – der Gestorbenen; oft sucht man ihnen aufzuhelfen, indem man Speisen auf ihre Gräber stellt, damit sie sich in ihrer Hinfälligkeit daran stärken. Odysseus ist zur Unterwelt abgestiegen und hat den Schattenseelen eine Schüssel Blut zu trinken hingestellt, auf daß sie sich für einen kurzen Augenblick an das vergangene Leben erinnern. Das frühe Judentum hatte, wie viele andere Völker, ähnliche Vorstellungen. Der Tote ist freilich tot, aber er ist deswegen doch nicht nichts. Er ist der gleiche, in einem andern Zustand, einem wenig beneidenswerten, und der Lebende fühlt ein scheues Mitleid mit ihm: Vielleicht könnte man ihm helfen.
Die Vorstellung kann sich auch umkehren: Der Tote ist aus dem beklemmenden Wechsel, der ängstlichen Ungewißheit des Irdischen übergegangen in einen dauernden Zustand. Seine Ruhe ist erquickend, vielleicht ist sie auch nicht einsam: er ist «zu seinen Vätern versammelt», ruht im «Schoß Abrahams»: dann erscheint Totsein gegenüber dem immerwährenden Sterben und Abschiednehmen hienieden wie eine Art immerwährendes Lebendigsein.
Aber zwischenhinein fährt der Gedanke nach einer überzeitlichen Vergeltung: Der Frevler und der ungerecht Leidende können im Jenseits nicht das gleiche Los haben. Etwas von seinen Taten folgt dem Menschen nach; und sicherer, als daß das Gute belohnt wird, ist, daß er das Arge, mit dem er die Weltordnung gestört hat, abbüßen muß. Sonst müßte er in alle Ewigkeit zusammengekettet bleiben mit seiner Bosheit, wie ein Lebendiger mit einer faulenden Leiche.
Hier entspringt die Vorstellung der qualvollen Reinigungsorte, und noch unmittelbarer der Mythos der Seelenwanderung. Er ist dunkel und kann kaum bis zum Ende durchgedacht werden: Der Schuldige muß in eine neue Existenz, um früher Verbrochenes zu büßen: Ist die schlimmere, die erschwerte Existenz als solche denn schon die Buße? Oder wird ihm – aus welcher Gnade? – irgendeine Existenz angeboten, in der er Gelegenheit erhält, sich besser zu benehmen? Was geschieht, wenn er die Gelegenheit wieder versäumt? Gibt es ein endgültiges Ja und Nein? Und wie kann einer für eine Schuld büßen, von der er in der jetzigen Existenz nichts mehr weiß? Ist er überhaupt der gleiche? Der Gedanke, von einer notwendigen Forderung ausgehend, verirrt sich ins Ausweglose.
Oder soll man sagen, der Mensch sei in Wahrheit eine Seele, die sich im vergänglichen körperlichen Leben in einer Fremde, einem «Grab» befindet und durch den Tod daraus erlöst wird? Aber dann muß das Leibliche mit Irrtum und Schuld zusammenhängen, und dieser Gedanke will uns nicht befriedigen: es war trotz allem etwas Gutes, gelebt zu haben, nicht alles vom Erlebten möchten wir vergessen, auf ewig vermissen.
Aber hängen wir nicht zu sehr an unserem Ich? Ist es nicht Egoismus, in alle Ewigkeit immer dieses gleiche, enge, bei sich selbst verweilende Ich sein zu wollen? Bestünde die wahre Erlösung nicht eher darin, endlich aus dem Kerker dieses Ich auszubrechen und sich im All-Leben mit dem zu vereinen, was in diesen ungezählten Einzelwesen das Eigentliche, Bleibende, Wertvolle ist? Sollten wir nicht schon hienieden damit anfangen, unser Ich zu sprengen, unsere kleinen egozentrischen Standpunkte zu übersteigen und von der Warte des Allgemeinen, für alle Gültigen zu urteilen, zu fühlen, zu handeln?
Keiner dieser Gedanken der alten Völker ist vollendbar, überall stößt das Tasten im Finstern an eine Wand. Und man kann die verschiedenen Gedanken auch nicht zusammenaddieren, um in der Summe die Wahrheit zu errechnen. Sie widersprechen einander. Aber welch ein Suchen! Welch unermüdliches Abschreiten des Kreises, ob nicht doch irgendwo die befreiende Türe sich fände! Welches Interesse am Sinn des Daseins, bis zur Herausforderung gegenüber den unbekannten Göttern, daß es mit dieser Sterblichkeit sein Bewenden nicht haben kann, daß der runde Sinn gefunden werden muß, koste es, was es wolle.
Woher aber nun diese Genügsamkeit heute? Man fragt nicht mehr, man lebt dahin und kostet, so gut es geht, den Augenblick aus. Es ist einem egal, ob das Dasein mit dem Tod aus ist oder nicht. Man geht im Betrieb auf, Geldverdienen oder auch Entwicklungshilfe, man gönnt sich vielleicht mit Drogen eine kleine Exkursion in ein Traumparadies, man läßt sich vom bequemen Strom der Evolution dahintragen und ist schon zufrieden, wenn man sein winziges Scherflein zu einem (sehr fraglichen) Glück einer kommenden Menschheit beigetragen hat. Nicht alle sind so genügsam, aber doch sehr viele. Weshalb?
Es wäre nicht unmöglich, daß das Christentum Schuld daran trägt. Es hat auf eine Frage nach dem Sinn von Leben und Tod vom Osterereignis her eine so unerhörte Antwort gegeben, daß es gleichsam alles Tasten und Suchen der Menschheit auf sich hin konzentriert hat. Es fordert aber den Glauben, und der wird dem Menschen sauer.
Verweigert er aus irgendwelchen Gründen das Ja zu Jesus Christus, so müßte er auf eigene Faust weitersuchen, und er fühlt: es lohnt sich jetzt nicht mehr. Die ganze Landschaft ist bereits durchstreift, es gibt nichts Neues mehr zu entdecken. Lassen wir’s sein. Begnügen wir uns mit dem bißchen, was sicher ist: unserem sterblichen Leben. Das Christentum ist auch in dieser Hinsicht eine gefährliche Sache: «Wer nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat.» Es macht eben ganze Sache. Wie Gott im Auferstandenen ganze Sache macht, wollen wir im nächsten Abschnitt betrachten.
Der Auferstandene: Ichsein in Gott
Die bedrängende und unlösbare Frage: Hört dieses Ichsagen – das uns das Leben lang begleitet und uns das eine Mal als unser wertvollster Besitz, das andere Mal als eine Fessel, ein Kerker erscheint –‚ hört es mit dem Tod auf oder dauert es fort? Fortdauer braucht dabei nicht zeitlich genommen zu werden, als strömte nach dem Tod der Zeitfluß unabsehbar weiter; es soll einfach besagen, daß unser Ichsagen und Ichsein mit dem irdischen Leben nicht abgetan ist.
Es nützt uns nichts, eine Unterscheidung zu versuchen zwischen einem höheren und einem niedrigeren Ich (einem monumentalen und einem phänomenalen, oder wie immer man das ausdrücken mag), die Frage kehrt trotzdem wieder. Und sie quält uns, denn irgendwo wissen wir: Wenn unser Ichsagen aufhört, dann verliert alles – Welt und Mitmensch und Gott selbst – sein Interesse, nichts ist dann mehr für uns da; aber wir wissen auch: solange wir den Standpunkt nicht überschritten haben, auf dem wir alles auf unser Ichzentrum beziehen, an der Wirkung messen, die es auf uns macht, sind wir nicht wahrhaft frei, nicht wahrhaft erlöst zur Wirklichkeit, wie sie an sich selbst ist. Wir können von einer Lösung träumen. Etwa so: es ist der beschränkte Körper, der uns zwingt, immer bei uns selber zu sein, alles auf uns selber zu beziehen: wie der Körper auf heiß und kalt, süß und sauer reagiert, so die im Körper lebende Seele auf sympathisch und unsympathisch, interessant und langweilig usf. Sind wir diesen Körper einmal los, dann wird vielleicht unsere Seele groß offenstehen für alle Dinge, wie sie in sich sind, sie wird dann reine Ekstase ins All sein und so an der ganzen Wirklichkeit teilhaben. Aber diesem Traum muß man sogleich die ernüchternde Frage entgegenstellen: Kann eine so ekstatische Haltung dann noch ihrer selbst bewußt sein? Wer ist es, der so für alles offensteht? Wenn dieses Ich sich nicht mehr als Ich erfährt, kann es dann überhaupt noch etwas erfahren? «Ich» oder «nicht mehr Ich»: das ist die Frage!
Es gibt einen einzigen Punkt in der Geistesgeschichte der Menschheit, wo dieses tödliche Entweder-Oder überstiegen ist: Jesus Christus, der jenseits des Todes seiner Kirche als lebendiges Ich begegnet. Aber als ein Ich, das «zu meinem Vater und zu eurem Vater» auffährt.
Warum ist für Christus das Ichsein und Ichsagen in keiner Hinsicht eine Fessel, von der ihn der Tod befreien müßte? Weil er nur insofern ich sagt, als er weiß, daß der Vater zu ihm du sagt. Er ist kein Ich für sich selbst, sondern er ist ein Ich für den Vater, der ihn will, ihn «braucht», um an ihm «sein Wohlgefallen zu haben». Der ihn liebt, und zwar nicht zufällig, so daß er auch einen anderen lieben könnte oder keinen oder nur sich selbst, sondern der ihn liebt als den Ausdruck seiner ewigen absoluten Liebe, die ohne ihn nicht Liebe sein könnte.
Wenn der Sohn Gottes bei sich selbst ist, dann ist er bei der Liebe des Vaters. Und weil der Vater ihm «alles geschenkt» hat, hat er ihm auch gegeben, eigenes Zentrum und eigener Ursprung zu sein; er braucht sich nicht bloß immerfort passiv beschenken zu lassen, sondern kann ebenso schöpferisch-aktiv sein wie der Vater: sie können sich ihre gegenseitige Liebe ebenbürtig beweisen, indem der Heilige göttliche Geist der Liebe, ein einziger, aus beiden hervorgeht.
Müßte der Sohn Gottes sich ewig nur als das Geschenk des Vaters an ihn verstehen, so läge darin etwas Demütigendes. Immer nur danke sagen zu müssen, kann enttäuschend sein, man möchte auch einmal aus dem eigenen Innersten ein ganz großes Geschenk machen. So wie Mann und Frau in Zeugung und Geburt des Kindes einander das unerhörte Geschenk eines Dritten zwischen ihnen machen können. In Gott sagt der Sohn «danke, daß ich sein darf» so, daß er dem Vater die ganze Gottheit zurückschenken kann: als der Heilige Geist der Liebe, der ausgeht vom Vater und vom Sohn.
Und nun ist der Sohn Mensch geworden und ist als Mensch in Kommunikation (Verbindung, Anteilnahme) mit der ganzen geschaffenen Welt und mit allen Wesen in ihr. Mit uns allen, die wir an der Enge und Bedrängnis unseres Ich leiden und gerne ausbrechen möchten ins Offene und Ganze. «Erlösung» durch den Sohn heißt nichts anderes, als daß er, mit uns kommunizierend, alles auf sich genommen hat, was an unserem Ich-sagen schuldhaft, egoistisch, selbstbezogen ist – das Erlebnis dieser tausendfachen Enge hat er am Kreuz durchgetragen –, um uns in die Weite seines dankenden und liebenden Ich-sagens hinauszuführen.
Wir können, wenn wir ihn in uns gewähren lassen, aus Gott dem Vater wiedergeboren werden, das heißt, wir können dem liebenden Gott unser Ich so verdanken, wie der Sohn es tut. Er läßt ja Magdalena «seinen Brüdern melden: ‹Ich fahre auf zu meinem Gott und zu eurem Gott›». Er tilgt den Abstand zwischen sich und uns. Und er nimmt uns hinaus in das Wehende des göttlichen Geistes: «Alle, die sich vom Geist Gottes treiben lassen, sind Söhne Gottes.»
Aber weil wir Söhne sind, empfangen auch wir diesen Geist nicht nur passiv, sondern können in der offenen Weite des göttlichen Geistes leben, wirken, schöpferisch produktiv, so daß wir unser Leben und Tun und Lieben für Gott selbst zum Geschenk und zur würdigen Antwort werden lassen. Wenn wir in unserem Ich uns ganz Gott verdanken, dann wird auch Gott uns für alles danken, was wir ihm an gottgemäßen Leben und Tun zurücksenden.
Die ganze Welt ist in Christus zu Gott hin geöffnet worden. Gott schenkt uns diese Welt als den Bereich unseres Lebens und freien Wirkens, und wir können, in dieser Welt nach unserem Vermögen wirkend, sie nach Gottes Gedanken gestaltend, Gott etwas zurückgeben, was er als ein Geschenk von uns nimmt.
Daß Gott dreieinig ist, ist also nicht nur ein abstruses (verworrenes) Dogma, von dem man nichts versteht. Es ist für uns die Wahrheit auf Leben und Tod. Wenn Gott es nicht ist, wissen wir keine Lösung für unser Ich. Wenn er es ist, können wir uns als Ich bejahen, weil Gott du zu jedem von uns sagt, und weil wir in diesem Ich-Du ermächtigt sind zu einem echten Wir im Heiligen Geist.
Der Auferstandene: Das Seligwerden des Leidens
Das Leiden dieser Welt ist entsetzlich. Es bricht in jede Existenz ein: als Enttäuschung, Ohnmacht, Krankheit, Tod der Geliebten, eigener Tod, aber es häuft sich in manchen Existenzen so, daß bei ihrem Anblick nicht nur ihr eigenes Dasein, sondern alles Dasein sinnlos, ja dämonisch erscheint. Jede Theodizee (Gottverteidigung) versagt, sie wirkt naiv angesichts der Furchtbarkeit des Daseins. Und je sensibler die Menschheit für das Leiden der «Erniedrigten und Beleidigten» wird, desto weniger überzeugen die Verteidiger Gottes. Es gäbe höchstens eins: daß Gott sich selber verteidigt.
Er hat das einmal getan, als der Auferstandene seine Wundmale gezeigt hat. In diesen Wundmalen liegt ja nicht bloß das bißchen Schmerz, das ein Gekreuzigter – einer unter Hunderttausenden – während drei Stunden ausstehen mußte, sondern der Schmerz der ganzen Welt. «Unsere Schuld und unsere Schwären hat er getragen», weil «Gott ihn für uns zur Sünde gemacht hat», weil «er sein Leben als Schuldopfer für alle dahingegeben hat.»
An dieser Aussage: «für uns alle» hängt der ganze christliche Glaube. Wie es ihm, dem Sohn Gottes, möglich war, sich zum wirksamen Mittelpunkt des ganzen Weltleids mit seiner Sinnlosigkeit, seiner «Gottverlassenheit» zu machen, können wir nicht durchschauen. Aber sicher hat er seine Wundmale nicht gezeigt als die Narben eines privaten, individuellen Leidens unter anderen, sondern als die Symbole des durchgestandenen Weltleids überhaupt. Jenseits von Tod und Hölle – das heißt von endgültiger Gottferne – taucht er mit diesen Wundmalen im Licht auf. Das Ausgangslose hat einen Ausgang.
Und nicht nur das: das Ausgangslose, Vergebliche, in der Finsternis des Erlebtwerdens Fürchterliche, erweist sich am Ende gerade als der Weg, der Sinn und Nutzen, das Barmherzige. Es [ist] nicht zu glauben, aber der Glaube allein erfaßt es.
Was erfaßt er denn? Daß im innersten Punkt alles Leidens – dort, wo der einzelne mit seinem Bewußtsein nicht mehr heranreicht oder wo er nichts als die Sinnlosigkeit und die Unerträglichkeit der Schmerzen erlebt – einer steht, der aus reiner Liebe zu Gott und der Welt sich ins Unerträgliche hat verfügen lassen. Aus Liebe zu Gott: weil das Nein des freien Menschen Gott gegenüber am Ursprung des Leids steht, und Gott im Zentrum des Leids die Liebe zu ihm erblicken soll; aus Liebe zur Welt, weil dieser Leidende in der Solidarität mit allen Leidenden dem Schrecken der Einsamkeit die Spitze und die Giftzähne ausbricht: keiner kann mehr sagen, er sei im Sinnlosen verlassen: einer ist mit ihm zusammen, der im noch Sinnloseren noch verlassener ist.
Natürlich hat eine solche Solidarität letztlich nur Sinn, wenn sie nicht nur eine Gebärde von Mensch zu Mensch ist; eine solche kann rührend sein, sie kann vielleicht auf Augenblicke und eine Strecke weit Licht in ein fremdes Leid hineintragen, da jemand dem Leidenden sagt: «Ich bin bei dir, ich versuche, dich zu begleiten …», aber irgendwann erlischt dieses Licht, und die Ohnmacht rein menschlichen Begleitens wird offenbar. Der Leidende kann nicht mehr eingeholt werden.
Nein, es muß wirklich die Gebärde Gottes auf den Menschen zu sein. Und in Jesus Christus, dem Gekreuzigten, spricht Gott dem Menschen sein letztes, verstummtes Wort zu. So eindringlich, weil es so stumm ist. Reden würde längst nichts mehr nützen. Beteuerungen, Tränen des Mitleids sind der Situation nicht gewachsen. Die einzig noch tragende Sprache ist die des Seins. Des Mitseins. Im nicht mehr Sagbaren. Im Unerträglichen. In jener Einsamkeit, die das äußerste Leiden schafft, und wo auch die Worte, die mit «Mit-» beginnen, zerbrechen.
Gott selber muß seine Theodizee erfinden. Er muß sie bereits erfunden haben, als er die Menschen mit Freiheit ausstattete, mit der Fähigkeit (und deshalb mit der Versuchung), nein zu ihm, zu seinem «Gebot» zu sagen, lieber für sich als für Gott zu existieren und sich damit ins Sinnlose und Unerträgliche zu verlieren. Schon da muß er eine «unmögliche Möglichkeit» im Sinn getragen haben, dem Menschen auch in die äußersten Konsequenzen seiner menschlichen Freiheit hinein folgen zu können. Die Gestalt des Nein, das Leiden, durch ein tieferes Ja zu untergreifen und zu einem Ausdruck der Liebe umzuwerten.
Erst jetzt ist es heraus, daß Gott wirklich Gott ist – so frei, daß er den Menschen ganz frei lassen kann – und daß die Welt wirklich Welt, nämlich so «mündig» ist, daß sie sich auf eigene Verantwortung auch ins Widergöttliche, Sinnlose verirren kann. Erst jetzt werden der Freiheit auf beiden Seiten keine Schranken mehr gesetzt. Erst jetzt wird der leidende Mensch durch den mächtigen Gott nicht mehr überwältigt, sondern die Welt kann mit ihren ganzen Abgründen und Schrecken, mit ihrer ganzen Absurdität und Grausamkeit im Schoß des Absoluten aufgefangen und gerechtfertigt werden. Je tiefer das Leid, um so nochmals tiefer erweist sich die Liebe. Sie ist das Je-Tiefere, uneinholbar. Und dort, im Je-Tieferen, geschieht die Wende, die Auferstehung der Toten, die Rechtfertigung und Sinnbegabung des Sinnlosen.
Keine Religion hat dem Leiden einen ewigen Sinn abgewinnen können. Religionen sind für gewöhnlich Rezepte gegen das Leiden: Wie man sich darüber erhebt, wie man fühllos dafür wird, wie man das Weltleid als die notwendigen Schatten ansehen kann, durch die ein Gemälde noch schöner wird. Das ist Flucht oder Ausflucht. Das Christentum blickt dem Leiden mitten in den Augenstern und mißt sich mit ihm.
Der Gott, der «jede Träne trocknen wird», ist nicht einer, der selber von Tränen nichts weiß. Er hat über Jerusalem geweint und «in den Tagen seines Fleisches mit lautem Geschrei und Tränen Flehrufe» zum Himmel gesandt und «im Leiden den Gehorsam gelernt». Er weiß, was all das heißt. Die Welt, die er zu sich heimholen wollte, sollte alle ihre Möglichkeiten entfaltet haben, damit auch Gott Gelegenheit hätte zu beweisen, daß er – jenseits unserer Ohnmacht und mit ihr zusammen – allmächtig ist.
Der Auferstandene und die Gemeinschaft der Heiligen
Der Herr hatte seinen Tod und seine Auferstehung vorausgesagt, als er aber den Jüngern lebendig begegnete, wollte keiner es wahrhaben. Es schien ihnen unmöglich, daß die Auferstehung der Toten mitten in der geschichtlichen Zeit, während sie noch weiter dem Tode entgegenlebten, beginnen könnte. Für einen Juden war «Auferstehung der Toten» und «Ende der Zeit» dasselbe. So also erschien Jesus allein auf der andern Seite des Todesgrabens zu sein und die Jünger alle diesseits.
Aber Jesus ist der Mensch für die anderen Menschen; wo er ist, ist er nie allein. Die Urkirche weiß das schon, wenn sie – in ganz alten Texten – bekennt, Jesus sei «für uns» gestorben und auferstanden. Und bei Johannes spricht Jesus die Verheißung aus: «Wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein; wenn einer mir dient, wird ihn der Vater ehren.» Und noch stärker: «Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast.» Den trennenden Todesgraben schließt er ausdrücklich: «Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen. Noch eine kleine Weile, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und ihr leben werdet.»
Nicht nur durch seine sichtbaren Erscheinungen, die ja vorübergehende sind, sondern durch sein ganzes Sein als Auferstandener stiftet er also, von jenseits des Todes her, neue Gemeinschaft: die eigentliche Gemeinschaft der Heiligen entsteht hier. Die «Heiligen» sind jene, die durch die Selbsthingabe Jesu in seinem Tod «geheiligt» oder «geweiht» worden sind, sofern ihnen ihr altes, egoistisches Ich am Kreuz grundsätzlich zerbrochen und der Vergangenheit anheimgestellt worden ist.
Ob sie es wollen, wissen, verstehen oder nicht: Sie sind auf eine höchst geheimnisvolle Weise mit ihm zusammen jenseits des Grabens. Was sie noch sterben werden, ist nicht der große Tod, den er ein für allemal für sie vorweggestorben ist. So kann die alte Kirche gar nicht anders, als das Ergriffenwerden durch die Wirklichkeit Christi bei der Taufe als ein Mitsterben und Mitauferstehen mit ihm zusammen beschreiben. Die Glaubenden sind durch Gott «aus der Gewalt der Finsternis gerettet und in das Reich des Sohnes seiner Liebe versetzt».
Darum ist es, von der Welt aus gesehen, schwer oder gar nicht zu sagen, «wo» sie eigentlich sind. Natürlich sind sie «in der Welt», und Jesus bittet den Vater nicht, er «möge sie wegnehmen aus dieser Welt», und auch Paulus sagt den Korinthern, er könne sie nicht aus dieser Welt wegverpflanzen. Trotzdem sind sie «zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem hinzugetreten», haben dort ihr «Bürgerrecht» und sind insofern «Fremdlinge» in dieser Sterblichkeit.
Die «Welt» kann das nicht verstehen, ja die Christen selbst verstehen es kaum, daß sie seit der Auferstehung Christi, des «Erstlings», schon im ewigen Leben angesiedelt sind. Die Welt meint, dies sei ein Widerspruch, oder wenn man sich für den Standort im ewigen Leben entscheide, dann habe man «die Erde verraten». Sie weiß eben nicht, daß der leibhaft Auferstandene die Welt selber schon mitgenommen hat zu Gott. Ihr eine Tiefe und Weite verliehen hat, die ihr gehört, obschon sie es nicht weiß. Daß nunmehr zwischen Erde und Himmel der Abstand und die Unterscheidung aufzuhören begonnen hat. Daß, wie es heißt, «die trennende Scheidewand niedergerissen» worden ist.
Weil aber in jenem «Reich des Sohnes seiner Liebe» das Grundgesetz die Liebe ist, gibt es dort (nach dem Wort des heiligen Chrysostomus) «das kalte Wort mein und dein» nicht mehr, in Gott hat man alles gemeinsam, weil Gott alles gemeinsam hat und alle Gott gemeinsam haben, jeder auf seine unverwechselbare, persönliche Weise. Aber jeder hat dort auch an der persönlichen Weise aller andern Anteil, ohne daß die Personen deshalb ineinander verschwimmen. Das macht gerade den Reichtum und die Seligkeit des Himmels aus. Wer auf Erden schon an diesem ewigen Staatswesen teilhat, vermag am verborgenen (und zuweilen auch ahnungsweise sichtbaren) «Kommunismus» der göttlichen Güter teilzuhaben. Nicht allein Christus hat die Macht erhalten, die fremden Lasten zu tragen und dafür an den Gnaden Gottes Anteil zu geben, sondern – in ihm und durch ihn – auch alle, die nach seiner Auferstehung in Glaube, Hoffnung und Liebe am ewigen Leben Anteil erhalten. Man kann nicht Anteil erhalten ohne die Macht, Anteil zu geben. Und je mehr man Anteil erhält, das heißt, je mehr man in die Gesinnung Jesu Christi hineinwächst, der nur für die andern da sein will, desto wirksamer kann man auch Anteil geben: durch sich hindurch an Gott.
Man müßte hier auch noch bedenken, wie eng Tod und Auferstehung Jesu mit seiner Eucharistie zusammenhängen: Nur indem er für alle stirbt und zu Gott hin aufersteht, kann er sich selbst (und in sich den dreieinigen Gott) an alle verteilen, damit alle durch die Eucharistie ebenfalls an der eucharistischen Gesinnung und Wirkkraft Jesu Anteil bekommen. Wenn wir den Herrn im Sakrament empfangen, erhalten wir etwas von seinem eucharistischen Zustand und der damit verbundenen Vollmacht, wirksam für andere zu sein.
All dies ist heute in Gefahr, verkannt und vergessen zu werden, und doch steht es im Mittelpunkt des Katholischen. Eucharistie wird immer zwischen Himmel und Erde gefeiert, wie damals am See Tiberias, als Jesus das Frühmahl bereitet hatte und die Jünger aufforderte, ihre Fische zum gemeinsamen Mahl zu bringen. Ein solches Mahl stiftete zwischen ihnen eine überzeitliche, aus ewigem Leben gespeiste Gemeinschaft.
Man pflegt (auch das kommt aus der Übung) einzelne Heilige anzurufen, von denen man erfahren hat, daß sie viel bei Gott vermögen. Aber wer weiß, wo die Schar der bekannten Heiligen übergeht in die Schar der unbekannten, die ebensoviel «Macht» bei Gott haben? Wo die Schar der schon gestorbenen Heiligen übergeht in die Schar derer, die auf Erden vorweg im Himmel leben und gewiß nicht weniger bereit sind, all das Ihrige mitzuteilen?
Viele, die verborgen in Klöstern beten und sich hingeben, gehören sicher dazu. Und viele mitten im Trubel der Welt. Und viele, die ein unbegreifliches Leiden – Konzentrationslager, Deportationen, Hunger, Folter, Krankheit – ohne Auflehnung hinnehmen und es (sie wissen nicht wie) in den unbekannten Schatz von Weltleid hineinlegen, dessen Verwalter Gott ist, zugunsten aller. «Keiner lebt und stirbt für sich allein.»
Welch ungeheuerliche Alchemie ist die Zubereitung des Weltheils. Gewiß sollen wir mithelfen, sichtbare Not zu lindern, aber vergessen wir dabei nicht, daß wir, wenn wir in der selbstlosen Liebe leben, viel mächtiger sind, die Welt innerlich zu verwandeln, als wir ahnen. Gerade die Entmachteten, die sich kaum mehr etwas Zutrauen, die Kranken, Alten, andern zur Last Fallenden, sind es, ohne es zu wissen, am meisten. Christen müssen es ihnen sagen.
«Sie segnend schied er von ihnen»
Mit diesen Worten schildert Lukas im Evangelium das geheimnisvolle Ereignis der «Himmelfahrt» oder, wie Johannes es nennt, des Hingangs zum Vater. Es ist der notwendige Abschluß der ganzen Bewegung, die in den Abschiedsreden ganz schlicht beschrieben wird: «Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; nun verlasse ich die Welt wieder und gehe zum Vater.» Ausgegangen ist das Wort, der Sohn vom Vater, um «die Welt zu retten», sie in den Bereich der Liebe Gottes einzubeziehen, ihr diese Liebe bis in die untersten Fundamente einzustiften; zum Vater zurück kehrt das Wort Gottes, der Sohn, um den Seinigen – und wer gehört nicht schließlich dazu – «eine Stätte bei Gott zu bereiten».
Die geistige Bewegung Gottes, seine freie Gebärde auf uns zu, versichtbart und übersetzt er in die sinnenhafte Bewegung: Kommen und Gehen. Jesus erklärt seinen Jüngern ausführlich, daß sein «Gehen» keine Distanzierung bedeutet, im Gegenteil, es ist die Voraussetzung für ein viel innigeres Kommen und Bei-ihnen-sein. Aufgehoben wird jene Distanz, die zwei Menschen, jeder in seinem Leib, auf Erden auch in Freundschaft und Liebe immer haben: schon hat der Herr seinen Leib in Speise und Trank verwandelt und geht – wie durch geschlossene Türen – in das Innere der an ihn Glaubenden ein.
Aber indem er zum Vater zurückkehrt, wird er uns nicht nur seinen Leib, sondern auch seinen Geist einsenken, dieser Geist aber geht gemeinsam aus ihm und aus dem Vater hervor, deshalb kann er ihn nur in der Einheit – der Wiedervereinigung – mit dem Vater aussenden. Bei Johannes verheißt der Herr beides: er werde den Vater bitten, ihnen den göttlichen Geist zu senden, und er selber werde ihn ihnen senden. So wird das Pfingstfest (bei Lukas) geradezu zu einem Beweis für die Gottheit des Sohnes: Denn nun erkennt die Kirche, daß Jesus, zum Vater auffahrend, des göttlichen Geistes ebenso teilhaft ist wie der Vater und ihn vom Vater her und mit dem Vater zusammen über die Welt ausgießen kann.
Sein «Scheiden» ist also nur die Vorbedingung, noch näher bei uns sein zu können, oder besser gesagt: uns noch näher in die Sphäre göttlicher Liebe einzubeziehen. Dafür bürgt die große Segensgebärde, mit der Jesus Christus, nachdem er sein Werk vollbracht hat, der Welt entschwindet. Wir wissen kaum mehr, was im Rahmen der biblischen Offenbarung segnen heißt. Wir wissen es so wenig mehr, daß manche etwas altertümlich Magisches darin erblicken, das heute gründlich entmythisiert werden muß, und von dem dann nicht viel anderes mehr übrigbleibt als ein frommer Wunsch, die Anempfehlung eines Menschen an Gottes Gnade. Mehr scheint ein Mensch für den anderen nicht zu vermögen, als ihn darauf hinzuweisen, daß Gott allein vermag.
Es gibt heute viele Priester, die ihre Vollmacht des Segnens nicht mehr wahrhaben wollen und die, anstatt die Gemeinde zu segnen, sich selber und die Gemeinde dem Segen Gottes anempfehlen. Aber das ist nicht biblisch und nicht christologisch gedacht. Jesus Christus, der von Gott kommende Mensch, segnet beim Abschied die Erde mit einer ebenso menschlichen wie göttlichen Vollmacht und vollendet damit nur, was von Abraham und den Patriarchen her durch die ganze Geschichte Israels hindurch die den beauftragten Menschen in die Hand gegebene Macht und auch Pflicht war: als Segen des Stammvaters, des Sippenfürsten, des Volksführers, des Priesters, Königs, Propheten, als Segen, den gewiß ganz Israel immer wieder vom obersten Herrn alles Segens erbat, der aber von Gott aufs feierlichste den Beauftragten überantwortet wurde: «Sie sollen meinen Namen auf die Israeliten legen, und ich werde sie segnen» (Num 6,27).
Die Segensgebärde ist eng verbunden mit dem Tod. Wenn ein Vater im Sterben liegt, segnet er seine Söhne und Nachkommen. Es ist als liege in der Ohnmacht des Sterbens eine Feierlichkeit, eine Macht, den ganzen Ertrag der Existenz zusammenzufassen und das Beste davon, das was vor Gott Geltung hat, mit der Ermächtigung Gottes an die Fortlebenden weiterzugeben.
Die Bibel greift hier etwas auf, was jeder unverbildete Mensch angesichts des Mysteriums des Todes dessen, der seinen Kindern das Leben geschenkt hat, für angemessen halten muß: wie Vater und Mutter ihren Kindern mehr als das animalische Leben gegeben haben, nämlich wahrhaft menschliches, geistiges, persönliches Leben, so ist auch ihr Sterben für ihre Kinder mehr als ein physiologischer Vorgang, es ist eine höchst personale Situation. Dieses menschlich Tiefverständliche wird im Alten Testament in das Ereignis zwischen dem lebendigen Gott und seinem Volk einbezogen, um seine letzte Erfüllung in Christus zu finden, der sterbend und auferstehend den ewigen Bund zwischen Gott und der Welt besiegelt.
Er selber als Ganzer ist die Segensgebärde Gottes über der Welt. Aber nicht passiv bloß, sondern so, daß er in der Vollmacht seines Vaters diese Gebärde selber vollzieht. Er ist der Segen des Vaters, indem er sich in der Hand des Vaters als Eucharistie an die ganze Welt verteilen läßt und diese Verschwendung göttlichen Segens in «Danksagung» (das bedeutet ja Eucharistie) ganz auf die Liebe des Vaters zurückführt. Er ist aber auch sein eigener Segen, indem er durch seinen vollkommenen Gehorsam bis zum Kreuz sich selber aktiv zum ausgeteilten Segen werden läßt und vom Vater die unbeschränkte Vollmacht erhält, den Segen des Vaters (der er ist) an die Welt zu verteilen.
Wie sollte er diese Vollmacht, die das Schönste ist, was er hat, nicht auch an seine Kirche weitergeben. Der amtliche Priester hat die Eucharistie des Volkes Gottes zu feiern und sie als den Segen Gottes auszuspenden, aber mit der Auflage, daß auch er sich zum Kreuz führen (Joh 21,18) und als Segen austeilen läßt. Was an seiner Stelle der Priester vermag, das ist an ihrer Stelle allen Christen verliehen: die Vollmacht, den Segen Gottes auf die Menschen, nahe und ferne, Freund und Feind, herabzuflehen und zu verteilen.
So schloß ein Gottesdienst im Alten Bund: «Dann stieg der Hohepriester herab und erhob seine Hände hin über ganz Israels Gemeinde, um mit lauter Stimme den Segen des Herrn zu erteilen und sich der Ehre zu rühmen, seinen Namen auszusprechen. Das Volk aber fiel … nieder, den Segen des Allerhöchsten zu empfangen» (Sir 50,20-21).
Ewiges Leben mitten in dieser Welt
Das Leben des auferstandenen Herrn, der «ein für allemal gestorben ist und fortan für Gott lebt», ist Leben aus dem Tod. Alle Kreatur, die zum ewigen Leben in Gott gelangen soll, kann nur durch den Tod dahin kommen. Das Gesetz des Alten Testaments, daß keiner Gott sehen und am Leben bleiben kann, behält trotz allem recht. Trotz des Widerrufs einer wörtlichen Auslegung, wie er im Buch Deuteronomium erfolgte, da Mose dem Volk sagt: «Hat je ein Volk die Stimme des lebendigen Gottes mit aus dem Feuer heraus reden hören, wie du sie gehört hast, und ist am Leben geblieben? … Du hörtest seine Worte und bliebst doch am Leben» (4,33. 36f.).
Aber was war der Inhalt dieses Gotteswortes? Mose enthüllt ihn dem Volk: «Du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben, aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft.» Muß das Ich nicht sterben, wenn dieses Wort in ihm ganze und unerbittliche Wahrheit werden soll?
Christliches Leben ist Leben aus Glauben, Hoffnung, Liebe; und die Theologen sagen uns, diese drei seien «göttliche Tugenden», das heißt, vorweg schon in dieser Zeit Geschenk aus der Fülle des persönlichen Lebens Gottes, Teilnahme an seiner Gesinnung, seiner grenzenlosen dreieinigen Hingabe. Wenn das wahr ist – und Evangelium und Apostelbriefe zeigen uns immerfort, daß es wahr ist –, dann muß der Mensch sich selbst verleugnen, über sich hinausgehen, sich selbst absterben, um aus diesen göttlichen Kräften zu leben.
Er kann sie nicht aus seinem eigenen Zentrum heraus produzieren. Er muß aus sich selber heraustreten, um sich von ihrem Zentrum, das in Gott ist, ergreifen zu lassen. «Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben»: der Mann hat begriffen. Allen diesen Kranken und Sündern, denen Jesus den Glauben abgefordert hat, hat er die Hand gereicht, sie aus sich herausgezogen, sie wie Petrus über die Wellen schreiten lassen und ihnen jenes ewige Vertrauen, jenen ewigen Mut eingeflößt, durch den sie ins Heile gelangten: «Dein (dir geschenkter) Glaube hat dir geholfen.»
Das gleiche wird an Abraham mit der Hoffnung demonstriert. Schon daß er, dessen Leib längst erstorben und dessen Frau unfruchtbar ist, im Alter einen Sohn erhalten soll, kann er natürlicherweise nicht hoffen: er muß es «gegen die Hoffnung hoffen». Und wenn ihm dann noch das Opfer des Sohnes der Verheißung abverlangt wird, über dem er selber das Messer zücken soll: aus welcher inneren Kraft soll er da noch Hoffnung produzieren? Während alle seine Kräfte für den reinen Gehorsam beansprucht werden, wird ihm seine Hoffnung gleichsam von Gott entwendet und an einer unzugänglichen Stelle hinterlegt, um ihm unversehens durch den Engel, der die Opferhandlung unterbricht, vom Himmel her wieder geschenkt zu werden. Abraham ist als menschlich Hoffender gestorben, um nunmehr ein aus göttlicher Kraft Hoffender zu werden.
Und nochmals dasselbe mit der Liebe. Wer von uns kann behaupten, er habe das Hauptgebot behalten; er liebe Gott ganz gewiß aus ungeteiltem Herzen mit all seinen Kräften? Weiß er nicht vielmehr, wenn er eine Ahnung vom Geforderten hat, daß «all seine Kräfte» nie hinreichen werden und daß sein Herz nie ungeteilt ist? Er muß über sich selbst (aber nicht über Gott) verzweifelt nach einer Liebe ausgreifen, die jenseits all seiner Möglichkeiten liegt, die er selber nicht prästieren kann.
So muß es Petrus getan haben, der den Herrn dreimal verleugnet hat, und der auf die Frage des Herrn: «Liebst du mich mehr als diese?», mit einem «Ja Herr, du weißt, daß ich dich liebe», antworten muß. Hier nein zu sagen, was seiner subjektiven Ehrlichkeit vielleicht entsprochen hätte, kommt in dieser Situation gar nicht in Frage. Das Ja wird unbedingt erwartet, es verweigern wäre Ungehorsam, also muß Petrus es sich im ewigen Leben ausleihen, um es dem Herrn darzubieten.
«Wenn unser Herz uns anklagt, so ist Gott doch größer als unser Herz, denn er weiß alles», sagt Johannes. Und Petrus: «Herr, du weißt alles, du weißt auch, daß ich dich liebe.» Er stirbt seinem Selbstbewußtsein, das ihn anklagt, er erhebt sich über das, was ihm evident erscheint (es auch für den Herrn ist, denn er weiß alles), um die theologische, göttliche Liebe zu ergreifen, in ihr, außer sich, sein neues Zentrum zu begründen.
Gott sorgt schon dafür, daß der Mensch, der sich in Glaube, Hoffnung und Liebe fahren läßt, um Gott die Ehre des Mittelpunkts zu geben, sich selbst nicht entfremdet werde. Ist der Mensch nicht aus Gott und zu Gott hin? Ist er nicht dann in seinem eigenen Zentrum, wenn er seinen Mittelpunkt mit dem Mittelpunkt Gottes zusammenfallen läßt? Nur wer der törichten Ansicht ist, daß Gott ein «Anderer», ein «Zweiter», ein «Fremder» sei, kann meinen, der Mensch, der sich Gott überantwortet, könne sich selber entfremdet sein.
Aber wenn das so ist, dann wird der Mensch ein gewisses Mißtrauen hegen gegenüber allem, was er so leicht hin aus seiner eigenen Mitte heraus produziert und was noch durch keinen Tod hindurchgegangen ist. Sein Glaube muß sich darauf gefaßt machen, «durchs Feuer hindurch erprobt zu werden»; denn dieser Glaube ist «viel kostbarer als vergängliches Gold», dem eine solche Läuterung von Schlacken nicht erspart werden kann. Er muß an den Stein des Ärgernisses stoßen und sich dort bewähren, bis an die Grenze geführt werden, wo er die eigene Glaubenskraft nicht mehr spürt, um einzig noch aus der Kraft Gottes weiter zu glauben.
Seine Hoffnung wird dort leben müssen, wo menschlich (und kirchlich) gesehen, alles hoffnungslos scheint. Immer neue Stützen werden mir weggebrochen, immer neue Aussichten werden vernebelt, immer neue Stimmen des Herzens werden zu Verstummen gebracht, bis nicht mehr ich hoffe, sondern Gott allein «meine Hoffnung» ist.
Und mit der Liebe hat es noch eine eigene Bewandtnis. Es gibt ja so vielerlei leichte und schwere, oberflächliche und tiefe Liebe, die aus dem Herzen des Menschen hervorbricht. Und fast immer schreibt sich diese Liebe – wenigstens wenn sie das Gefühl ihrer eigenen Echtheit hat – selber Dauer, Beständigkeit, Treue, sogar «Ewigkeit» zu. Daß sie oft genug nach kurzem von ihrem Gegenstand abläßt, um sich gleich wieder von einem andern bezaubern zu lassen, scheint allgemein menschlich, man betrachtet das mit Nachsicht und Achselzucken. Hie und da, wenn auch selten, begegnet Treue bis zum Tod, in der Ehe oder auch außerhalb. Solche Liebe ist dann durch viele Tode hindurchgegangen, hat sich dort, wo das Boot versank, an ein Brett geklammert, an ein Riff, das sich unverhofft dargeboten hat.
Man hat erfahren, was Überleben aus reiner Gnade bedeutet. Dante muß Beatrice loslassen, wie Rodrigo Proeza, um sie am äußersten Ende von Hölle und Purgatorium in Gott wiederzufinden, mit einer Liebe, die sich selber abgestorben und aus reiner Gnade auferweckt worden ist. Wir wollen nicht sagen, daß alle irdische Liebe zusammenbrechen und ausgelöscht werden muß, bevor sie in Gottes Ewigkeit neu ersteht; denn Gott kann aus seiner Ewigkeit zwei Wesen für immer einander zugestaltet haben. Aber ihr Treffpunkt liegt dann wirklich in Gott; und um dieser Kreuzung im Unendlichen willen sind alle Verzichte und Läuterungen auf sich zu nehmen.
Der Mensch ist von vornherein über diese Erde hinaus gebaut. In Glaube, Hoffnung, Liebe nimmt er das Maß seiner Bestimmung: der Nord Gottes bannt seinen Kompaß, und bei Gott, der ihn anzieht, nicht bei ihm, liegt die Kraft, die ihn in Bewegung hält.
Geist von oben und von innen
In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden, ohne aufzuhören Gott zu sein. Und wenn der Heilige Geist Gottes von oben her die Mutter des Herrn überschattet und den Samen des Vaters in ihren Schoß gelegt hat, so hat die Mutter im gleichen Heiligen Geist, von unten her als niedrige Magd, ihre Fruchtbarkeit Gott zur Verfügung gestellt. Und nachdem der Gottmensch als «Weizenkorn» sterbend in die Erde gefallen war und aus ihrer dunklen Tiefe zur «vollen Ähre» auferweckt wurde, ist auch die zeitliche, vergängliche Erde mit einer Fruchtbarkeit für Ewiges begabt.
Es ist keineswegs mehr so, daß Gott einfach oben, der Mensch einfach unten ist; Gott (der immer überall war) ist menschwerdend, schuldtragend, zur Hölle absteigend, bis ins unterste Unten hinabgestiegen, «um alles zu erfüllen». Deshalb kann er jetzt den Menschen mit seinem göttlichen Geist von «oben herab» wie von «unten herauf» begaben.
Wir kennen die geheimnisvolle Stelle bei Paulus, wo es heißt, daß nicht nur die Menschen nach Erlösung von der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit seufzen, sondern, daß der Gottesgeist selbst in ihnen «mit unaussprechlichem Seufzen mitstöhnt», und Gott gerade diese wortlose und beredteste Sprache versteht und erhört. Der Heilige Geist ist jenes Geheimnisvolle im Schöpfer- und Erlösergott, das die Schöpfung und die nach Freiheit ringenden Menschen nicht nur von oben, vom Ewigen her begreift, sondern von innen her begleitet und miterfährt.
Daraus folgt nun, daß wir – gerade in der heutigen schweren Kirchenstunde – den Heiligen Geist ebensosehr von oben herab erflehen wie vom Innern her ausbrechen lassen sollen. Beides in einem; denn er wird von oben nicht kommen, wenn wir ihm nicht auch im Innern Raum geben, und er wird von innen nicht ausbrechen, wenn wir meinen, ihn selbst produzieren zu können und es nicht nötig haben, ihn von Gott zu erflehen. Aber indem wir in unseren Herzen wirklich und ernsthaft Raum schaffen für ihn, wird er zu uns kommen, ohne daß wir feststellen können, woher: denn «er weht, wo er will, du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht».
Wir möchten im Zeitalter der Prospektive und Futurologie eben dies wissen, um den Geist kanalisieren zu können, wir möchten das sowohl weltlich wie kirchlich. Wir haben uns eine nachkonziliare Ideologie von der Kirche gemacht – als eines demokratischen, charismatischen Gottesvolks, mit gewissen Ämtern, deren Bedeutung umstritten ist – und erwarten vom Geist, daß er durch die Röhren dieser Ideologie hindurchsause. Er tut es nicht, soviel müssen wir heute schon, widerstrebend, zugeben.
Die Röhren erstarren; es wimmelt von neuen Amtsstellen, die unaufhörlich Entwürfe, Pläne, Synodenpapiere und dergleichen ausspeien, viel zu viele, als daß sie auch nur gelesen, geschweige denn verarbeitet werden könnten. Die römische alte Bürokratie war ein Kinderspiel verglichen mit der neuen nationalen, die nicht nur die besten spirituellen Kräfte des Landes molochartig in sich absorbiert und verbrennt, sondern darüber hinaus die echten personalen Entscheidungen der einzelnen, auf die es ankommt, lähmt.
Und dann wundern wir uns, daß die Jugend aus der Kirche auswandert, die sich nicht anders als die weltliche Gesellschaft vertechnisiert und verorganisiert.
Wo ist ein Ausweg? – Der Heilige Geist weht, wo er will, aber geht aus vom Vater und vom Sohn, und wo immer er wehen mag, er weht zwischen dem Vater und dem Sohn. Sie wehen ihn sich gemeinsam zu als den Geist ihrer einzigen, ungeteilten Liebe. Wer sich genau in die Achse zwischen Vater und Sohn stellt, der steht mitten im Wind des Heiligen Geistes. Was ist diese Achse? – Vom Vater aus gesehen ist es die Hingabe des Eigenen, des Kostbarsten, des Inbegriffs seiner Liebe an uns. «So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eigenen Sohn nicht geschont hat …» Vom Sohn aus gesehen ist es die vollkommene, offene Bereitschaft ohne Wenn und Aber, ohne Bedingung und Einschränkung, sich senden zu lassen in das Verlorenste dieser Welt.
Man spricht von einem «Erlösungsplan»; man kann das tun, aber das Wort ist nicht gut gewählt, denn der «Ratschluß», das «Wohlgefallen», der «Vorsatz» Gottes (Eph 1) ist keine Planung nach Art der menschlichen, wo alles Schritt für Schritt vorausberechnet wird, sondern die Überholung aller Zwecke durch das vollkommen Zwecklose, Umsonstige, Unberechnete und darum «Törichte» der göttlichen Liebesverschwendung.
Der Geist, der zwischen Vater und Sohn weht, ist diese personifizierte Verschwendung. Und nur als diese «Torheit» kann er dann all das sein, was man ihm zuschreibt: «Geist der Weisheit und des Verstandes, des Rates und der Stärke, der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.»
So wird man, wie mit der Wünschelrute, erspüren müssen, wo in der Kirche (und in der Welt) unterirdisch eine Geistquelle sprudelt, die den Sinn für das Umsonst, die Bereitschaft zu allem, die Verschwendung besitzt. Wo Menschen sind, die nicht nach eigenen Plänen ihr Leben entwerfen, sondern bereit sind, sich im Geist und durch den Geist in alles werfen zu lassen, wessen der Geist bedarf.
Es wäre aber verkehrt, solche Menschen sofort einzuvernehmen in die kirchlichen Prospektivplanungen hinein. Man müßte vielmehr zuerst den Geist der Bereitschaft in ihnen entfalten, vertiefen, zur Grundlage des ganzen Daseins machen, ihn wacherhalten in allen weltlichen und kirchlichen Berufen, in denen sie später arbeiten werden, die Quelle des Geistes in diesen Seelen von innen her reinhalten, damit der Geist in ihr Leben von oben her einbrechen kann, das Ja-Wort des Herzens lebendig sein lassen, damit der Wille Gottes (und nicht der eigene) täglich neu ebenso lebendig von ihnen aufgenommen werden kann.
Eine solche Quelle wird nur dort fließen, wo Geist des Gebetes ist: Seufzen des Herzens zu Gott, das sich die Übersicht nicht selber zutraut, sondern in der Sicht Gottes leben will. Wo Geist der Armut ist: im vollgestellten Herzen kann der Geist Gottes nicht wehen, nur durch das ausgeräumte hindurch. Wo Geist des Gehorsams ist: weil der Sohn Gottes im Gehorsam an den Vater bis zum Tod der Freieste war, der den an ihn Glaubenden verheißen konnte, seine Wahrheit werde sie freimachen.
Es ginge nicht mit rechten Dingen zu, wenn die Verbürokratisierung der Kirche nicht in vielen Seelen die Sehnsucht nach diesen lebendigen Quellen des christlichen Geistes erwecken und diesen Geist selbst freilegen würde. Christentum lebendig ist immer urchristlich. Es hat die Kraft des Ursprungs, den der Heilige Geist stets heute gegenwärtig setzt. Es kennt Tradition, aber eine solche des jetzt lebendigen Geistes, so daß es eigentlich keine Vergangenheit hat. Gewiß gibt es dort, wo Menschen sind, immer Schuttablagerungen. Aber die wirkliche Kirche, die von Gott gemeinte und – sichtbar oder verborgen – lebendig erhaltene lebt nicht von vergänglichem, sondern von ewigem Leben. Sie ist der Vogel Phönix, von dem die Alten wußten, daß es nur einen einzigen gibt.

Hans Urs von Balthasar
Titolo originale
Der Mensch und das ewige Leben
Ottieni
Dati
Lingua:
Tedesco
Lingua originale:
TedescoCasa editrice:
Saint John PublicationsAnno:
2025Tipo:
Articolo