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Wie Adrienne von Speyr uns beten lehrte
Zum 30. Todestag Adriennes von Speyr, Mariastein, Schweiz (20.09.1997). Dr. Martha Gisi (Mitglied des Frauenzweigs der Johannesgemeinschaft)
Dies ist ein Versuch, im Namen der Johannesgemeinschaft auf die Frage zu antworten, die hin und wieder an uns gestellt wird, wie Adrienne von Speyr uns beten lehrte. Das lässt sich nicht so schnell sagen. Sicher aber hat sie uns nie ein unfehlbares Rezept gegeben. Hingegen erinnere ich mich an eine kleine Begebenheit, die in konzentrierter Form zum Ausdruck bringt, was Adrienne unter Gebetshaltung verstand.
Als einige Mitglieder der Johannesgemeinschaft einmal zu einer sogenannten Bildungsreise nach Florenz aufbrachen, sagte Adrienne ihnen zum Abschied, sie sollten möglichst wach alles aufnehmen, was ihnen begegne, die Kunstwerke genau betrachten; sie sollten diese Zeit der Erholung aber auch genießen und sich mit Eis und Kaffee stärken, wenn dies für die Aufnahmefähigkeit nötig sei. Auf die Frage: «Und wann sollen wir beten?», antwortete Adrienne mit ihrer gewohnten Schlagfertigkeit: «Ich sage ja auch nicht, atmen Sie. Also sage ich nichts vom Beten.» Das war ein Hinweis auf die für Adrienne so wichtige Gebetshaltung, die auch als Voraussetzung für jede andere Art von Gebet eine Rolle spielt.
Zunächst soll von dieser Gebetshaltung die Rede sein. Dabei kommt sicher manches zur Sprache, was den meisten von Ihnen bekannt ist. Aber bei einer Rückschau kann es schon vorkommen, dass an Bekanntes erinnert wird.
Das Gebet ist also eine selbstverständliche ständige, dem Menschen vielleicht nicht einmal bewusste Funktion, die ihm so nötig ist wie das Atmen, ein ununterbrochenes inneres Ausgerichtetsein auf Gott, das alles, was dem Menschen begegnet, von vornherein im Lichte Gottes sieht und ihm verdankt.
Diese Gebetshaltung ist für Adrienne charakteristisch. Nur von ihr aus ist ihr Werk überhaupt zugänglich und verständlich. Man darf wohl sagen, dass sie ihr ganzes Werk in dieser Haltung verfasst hat, ihre Schriftkommentare, ihre Betrachtungen zu einzelnen Themen des christlichen Lebens, zur Kirche und zu den Sakramenten, zur Lebenswahl, usf. Es ist eine Haltung, die im Gegensatz zum geformten Einzelgebet ein Sein, eine innere Gesinnung, eine Wachheit, eine stillschweigende Voraussetzung der absoluten Priorität der göttlichen Wirklichkeit bedeutet. Die Aufmerksamkeit ist ständig auf das Wirken Gottes gerichtet, sie versucht es mit liebendem Blick zu erkennen und setzt sich ihm aus in allen Äußerungen seines Willens. Adrienne drückt das in «Die Welt des Gebetes» folgendermaßen aus: «Das Gebet, so verstanden, wäre unser dauerndes Stehen vor Gott, unser Nichtverhindertsein am Umgang mit ihm, unser Wille, über alle in uns bestehenden Hindernisse hinweg ihn zu hören und ihm zu folgen. Eine tiefe, grundsätzliche Bereitschaft also, die den tragenden Grund aller einzelnen Gespräche und Gebetsakte bildet. Diese Bereitschaft muss uns durch alles Tagewerk hindurch begleiten, um sich zu gewissen Stunden in der Weise zu verdichten, die man im engern Sinne Gebet zu nennen pflegt: in jenem Zustand, in dem für nichts anderes mehr Platz in uns ist als für Gottes Stimme, für unser Hören auf sie und für unsere Anerkennung.» [Die Welt des Gebetes, 10]
An dieser Stelle begegnet uns ein zweiter Begriff, der das ganze Werk Adriennes kennzeichnet und mit dem der Gebetshaltung identisch ist, der Begriff der Bereitschaft. Gebetshaltung ist im Innersten erfüllt von der Bereitschaft, jederzeit auf den Willen Gottes zu hören und ihm zu folgen. Es ist die ernstgemeinte Haltung des «Rede, Herr, dein Diener hört», und nicht jene, an die man bei der heutigen Betriebsamkeit im Gebetsleben oft denken könnte: «Höre, Herr, dein Diener redet». In «Die Welt des Gebetes» drückt Adrienne dies so aus: «Im Glauben vor Gott stehen, hieße in Wahrheit: rasch sein Leben Gott vorstellen, sich aber dann davon frei machen und versuchen, so unverstellt vor ihm zu sein, dass er sich selber zeigen und offenbaren kann. Ihn betrachten und nicht sich selber.» [Ibid., 243]
Die Voraussetzung für eine wahre Gebetshaltung ist bei Adrienne immer eine Umkehr der Perspektive, die die Dinge nicht vom Menschen her sieht, sondern versucht, sie von Gott her zu sehen. Es ist eine eigentliche «Bekehrung», die bei jedem Gebet geschehen sollte. Sie befreit den Glaubenden von seinen alltäglichen Präokkupationen und erlaubt ihm, wieder nackt vor Gott zu stehen wie Adam, der im Paradies Gottes Stimme vernommen hat. Adrienne sagt: «Adam lebt einfach vor Gottes Angesicht, im Glauben und im Glück, und alles, was er tut, entspricht den Absichten Gottes. ‹Du sollst herrschen›, sagt Gott zu ihm; von einer Antwort Adams wird nicht berichtet. Es ist selbstverständlich, dass er Gottes Wort begreift und tut.» [Ibid., 7 f.]
Nach der Erbsünde allerdings, sagt Adrienne in diesem Zusammenhang, ist jedes Gebet zuerst eine Verlegenheit. Der Mensch tritt bekleidet mit all seinen ichsüchtigen Anhänglichkeiten vor Gott, wenn Gott ihn ruft: «Adam, wo bist du?» Von allen diesen verkehrten, auf sich selbst gerichteten Verstrickungen muss sich der Christ zuerst erlösen und entkleiden lassen, um sich dem suchenden Blick Gottes wieder nackt aussetzen zu können. Die Bekehrung am Anfang jedes Gebetes muss also in einem bewussten Loslassen aller Bindungen an eigene Wünsche bestehen, in einem Verzicht als Vorbereitung auf eine Gebetshaltung; dies wird von Adrienne immer wieder und in allen Variationen äußerst energisch gefordert. Sie schildert diesen Verzicht als eine Hilfe bei den Schwierigkeiten, die sich dem Christen in den Weg stellen, wenn er sich in die Gebetshaltung versetzen möchte. Dabei ist Adrienne auch in den Gebetsanweisungen an die Johannesgemeinschaft ganz realistisch: Man muss seine Stimmung, den Ärger über irgendein Ereignis oder die Niedergeschlagenheit, und wäre es die Niedergeschlagenheit über seine Sünde, ablegen. Hinderlich wäre auch das Bewusstsein, «man könne es», man überschaue von vornherein den Verlauf des Gebetes. Oft besteht die Gebetshaltung vor allem im Ausharren, wenn man nichts mehr sieht. Darin kann eine gewisse Verdemütigung liegen, eine Art Erniedrigung in dem stillschweigenden Zugeben seiner Unfähigkeit. Vielleicht ist gerade das jetzt gewollt, damit das Vertrauen umso reicher zu Gott aufsteigen und von ihm erfüllt werden kann.
Von hier aus wird die letzte Begründung der Gebetshaltung und ihre Tiefendimension bei Adrienne sichtbar. Sie gründet letztlich im dreifaltigen Gott und wird nur in dieser Sicht überhaupt möglich. Sie hat als Grundlage das Stehen des Sohnes vor dem Vater. «Was der Sohn vor dem Vater tut, das zeigt er den Menschen, damit sie von ihm lernen, im Angesicht Gottes zu stehen.» In dieser Haltung, in dieses Stehen vor dem Vater nimmt der Sohn die Erlösten aus Gnade mithinein. Alles bisher Gesagte bekommt im dreifaltigen Leben seinen Platz; weil der Sohn aus Liebe zum Vater den Menschen von der Erbsünde der Ichbefangenheit erlöst hat, kann dieser wieder nackt vor Gott stehen und ihm wie im Paradies begegnen.
Diese Schau darf man wohl als eine letzte Konsequenz der eigenen «Bekehrung» Adriennes, ihrer Konversion sehen. Weil sie damals die Wahrheit suchte, wie sie einmal sagte, und dabei ihren Blick in bedingungsloser Hingabe von ihrer Person weg auf Gott richtete, wurde sie immer tiefer in die geheimnisvolle Wahrheit des dreifaltigen Gottes eingeführt und von seiner Gnade überströmt.
Dass Adrienne sich dabei nicht in einer Art Quietismus verloren hat, zeigt sich in der Weise, wie sich ihre dauernde Gebetshaltung im geformten Gebet und in ihrem Verhalten im Alltag konkretisiert hat. Dazu sollen noch einige Beispiele folgen. Aus der Erkenntnis, dass alle Gnade, auch die Gnade des Gebetes, dem Kreuz entströmt, entsteht bei Adrienne zunächst der Wille, Buße zu tun. «Ist diese verborgene Quelle aller Gnaden erkannt, dann wird es der Christ nicht beim Gebet bewenden lassen, sondern danach verlangen, in irgendeiner, wenn auch unzulänglichen Weise, Buße zu tun: im Geist der Nachfolge und der Liebe.» [Der Mensch vor Gott, 34]
Dieser Wille und diese Bereitschaft zur Buße war in Adrienne in ungewohntem Maße vorhanden. Es ist hier nicht der Ort zu schildern, wie sehr diese Bereitschaft ihr ganzes Leben und vor allem ihr Leiden bestimmt hat. Wir wissen es alle. Hier soll nur ein Wort darüber gesagt werden, wie sie in alltäglichen Begebenheiten zum Ausdruck kam, wenigstens soweit dies für uns feststellbar wurde. Oft, wenn man Adrienne ein eigenes Anliegen vorlegte oder eines, das einen Menschen unserer Umgebung, etwa einen Kollegen betraf, sagte sie nicht etwa: «Ich will dafür beten», sondern: «ich werde etwas dafür tun», und man ahnte, dass sie damit ein Werk der Buße meinte.
In ihren konkreten Anweisungen zum Gebet, auch dem gesprochenen, hat Adrienne uns immer wieder darauf hingewiesen, wie Christus gebetet hat, etwa im «Vater Unser», wo es in erster Linie um die Anliegen des Vaters geht und um die Vergebung der Schuld, die unter anderem auch darin besteht, dass man den Vater nicht zu Wort kommen lässt und eher darum betet, dass mein Wille auf Erden auch im Himmel geschehen möge.
Mit Vorliebe kam sie auch immer wieder auf das «Ja» Marias zum Willen Gottes zu sprechen, das diese nur aus ihrer Gebetshaltung heraus zu sagen vermochte. Sie sah eine tiefe Bedeutung darin, dass manche Künstler Maria in der Verkündigungsszene kniend darstellten, wie sie, vom Engel angesprochen, ihren Blick ganz auf Gott gerichtet hielt. Im anschließenden Gespräch unterwirft Maria ihre eigenen Gedanken und auch ihre Schwierigkeiten ganz selbstverständlich den übernatürlichen Worten des Engels: «Beim Erscheinen des Engels sieht man, dass die Ebene ihrer Haltung und die ihres Betens eins sind, ganz ineinander verflochten. Sie sagt Ja aus der Fülle der göttlichen Gnaden, aber sie fragt auch: ‹Wie ist es möglich, da ich keinen Mann erkenne?› Das kennzeichnet sie als die Nüchterne, Normale, Wissende, Kluge und zugleich als die vollkommen Hingegebene. Als die, die menschlich rechnet, und als die, die alles in die göttliche Schale wirft. ‹Mir geschehe nach deinem Wort.›» [Die Welt des Gebetes, 92]
Adrienne war vor allem darauf bedacht, durch ihre Hinweise die kleinen menschlichen Vorstellungen zu sprengen, Hindernisse wegzuräumen, die den Blick auf Gott verstellen konnten. Im Zusammenhang mit dem Bittgebet, das für Adrienne, vor allem als auf die Mitmenschen bezogenes, unbedingt seinen Platz hatte, sagt sie z.B. «Vielleicht bete ich für die Bekehrung einer mir bekannten Person, doch es bekehrt sich ein Mensch irgendwo in China.»
Um uns vor jeder Art von Selbstbezogenheit im Gebet zu warnen, erzählte sie mit Entsetzen von einer Kollegin, die sie bei ihrem Besuch im Spital im Bett liegend mit an sich selbst angesetztem Stethoskop antraf.
Mit ihrem tiefen, im Gebet geformten Einfühlungsvermögen erkannte sie solche Tendenzen rasch und zögerte nicht, mit hilfreichen Maßnahmen einzugreifen, selbst wenn uns diese im Moment nicht ganz einsichtig waren, so etwa als sie eine von uns unvermittelt in ein fremdes Sprachgebiet sandte, wo sie sich selbst kaum verständlich machen konnte, sich also ganz auf die fremde Umwelt einstellen musste. Dass sie mit den Schlichen des menschlichen Herzens vertraut war, geht auch aus folgender Stelle hervor: «Es gibt freilich Täuschungen: ich kann im Gebet eine bestimmte Antwort von Gott erflehen, zum Beispiel, er möge mir zeigen, ob ich so oder anders handeln soll; ist aber mein Wunsch, dies und nicht jenes zu tun, sehr stark, dann kann die Antwort Gottes leicht verschüttet werden. Ich lasse ihn nicht ernstlich zu Wort kommen, sondern vernehme mich selbst in einem vergrößerten Schalltrichter. Dann würde für die Erkenntnis Gottes nichts gewonnen. Der Mensch hat Gott auf sein Niveau herabgezogen und erst noch, was Gott ihm zu sagen hat, mit dem verwechselt, was er hören wollte… Im Verlangen, Gott zu verstehen, formt er ihn sich nach eigenen Gedanken und Ansichten, und so ist er, ohne es recht zu merken, vorweg mit allem, was an Gott göttlich ist, schon fertig geworden… Wird der Christ sich dieser Gefahr nicht beizeiten bewusst, so wird er Gott gegenüber zum Besserwisser, und sein Gebet wird ihn zum Gegenteil der Gotteserkenntnis führen.» [Der Mensch vor Gott, 28 f.]
Jede Art von Besserwisserei war Adrienne ein Greuel, denn darin erkannte sie das Gegenteil der Gebetshaltung. Doch so sehr sie Besserwisserei verabscheute («sie scheidet mich», konnte sie sagen, Dialektausdruck für «sie bringt mich zum Gerinnen»), so sehr schätzte sie den Humor, wenn er eine Art von selbstloser Gelassenheit und Relativierung der eigenen Meinung oder die Absage an ein «Sichwichtignehmen» zum Ausdruck brachte. Darin lag wohl auch der Grund ihres eigenen Humors, mit dem sie schwierige Situationen in ihrem Leben zu relativieren pflegte. Diese Haltung bewahrte sie sich bis zuletzt. Unwillkürlich erinnert man sich an Thomas Morus, der mit einem Scherz das Schafott bestieg, wenn man hört, dass Adrienne wenige Tage vor ihrem Tod sich in scherzhafter Weise fragt, ob es wohl im Paradies noch Platz für sie gebe.
Martha Gisi
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Saint John PublicationsJahr:
2022Typ:
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