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Gibt es ein «Römisches Prinzip»?
Reinhard Raffalt hat seinem viel beachteten Buch «Wohin steuert der Vatikan?»1 eine Broschüre vorausgesandt, in der er «Das Ende des römischen Prinzips» als bereits eingetreten verkündet.2 Da die Artikulationen des größeren Buches sich hier wie an einem Skelett abzeichnen, dürfen wir, um es zu beurteilen, von den Definitionen der Broschüre ausgehen. Mit diesen wird man nicht leicht fertig, sie sind hintersinnig, brechen, wenn man sie zu fassen sucht, in tiefere Dimensionen ein.
Es ist «das universale Streben nach Übereinstimmung, nach gesetzmäßiger Harmonie, das den Kern des römischen Prinzips kennzeichnet. In ihm fließen pietas, Tradition und die Integration von Religion und Recht, von der Antike geschaffen, zusammen mit der christlichen Proportion zwischen Zeit und Ewigkeit.» Pietas, verstanden als der Wille, «die eigene Person in Übereinstimmung zu bringen mit den Gesetzen des Kosmos, des Staates, der Familie», wird zur Grundlage sowohl von Überlieferung wie von Recht, «das dem Individuum in der Wechselwirkung von Freiheit und Pflicht die organische Entfaltung zugunsten des Gemeinwohls ermöglicht». Man kann nicht in Zweifel ziehen, daß in diesen dichten Formelworten Zentrales von der besten römischen Tugend getroffen wird, wobei freilich schon die Frage aufsteht, ob zur Zeit, da Rom zur Weltmacht wird, von außen das polymorph-perverse Wesen des Hellenismus es anrührt, von innen im Kaisertum das kosmische Gleichgewicht immer bedenklicher wankt, die Formel noch gilt. Man denke an Hegels Beschreibungen Roms im Gefüge der Weltgeschichte. Ferner läßt sich fragen: Ist diese Kennzeichnung nicht genauso richtig, wo es um alte, gewachsene Großreiche geht, vor allem um China, das noch viel stärker als Rom das «Reich» ins Zentrum der kosmischen Harmonie stellte und den politischen wie den privaten Bereich organisierte? So wäre das Antik-Römische nichts Einzigartiges, sondern ein markanter Fall von Struktur einer organischen Großkultur. Einzigartig wird es indes dadurch, daß es zur Substruktur des Christlichen wurde: «Was im römischen Denken … vorgeformt war, wurde nun von der Kirche ergänzt durch die Wahrheit der Offenbarung. Das Bedürfnis nach Übereinstimmung mit den Gesetzen des Kosmos wurde von der Kirche aufgefangen durch die Sicherheit des göttlichen Gebotes, das in der Liebe seine Krönung findet. Die Geschichte als Kontinuum dehnte sich durch die Kirche aus zu dem großen Heilsplan, den der Herr der Geschichte entwarf und über die Beschwernisse der Zeitlichkeit hinweg zu einem verborgenen, aber glorreichen Ende führt. Die Präsenz der Geschichte in der Gegenwart wurde von der Kirche überhöht durch den Gebetskontakt mit den Seelen der Verstorbenen, den Heiligen des Himmels und schließlich durch die immerwährende Anwesenheit des Erlösers in der verhüllenden Form des Sakramentes …»; und solche Überhöhungen lassen sich noch vermehren. Sie mögen in der bewegten Geschichte des christlichen Rom nicht immer durchgehalten worden sein, «als Prinzip jedoch ist das Streben nach gesetzmäßiger Harmonie zwischen Natur und Übernatur der römischen Kirche niemals ganz verlorengegangen». Und weil in Rom die zentrale kirchliche auctoritas sich verwirklicht, war Rom «das Prisma, durch das die gebündelte Kraft dieses Prinzips einwirkte auf die Gestalt der Kirche, auf den sakrosankten Bezirk zwischen den Dingen des Himmels und der Erde».
Die Synthese von Antik und Christlich wird hier also aufgeführt auf dem – an Rom sich nur konkretisierenden – allgemeineren Prinzip der Harmonie zwischen Natur und Übernatur, das jedermann kennt und das immer als eine zentrale Kennzeichnung des Katholischen gegolten hat: «gratia praesupponit naturam», mit seinen erklärenden Zusätzen: «non destruit, superelevat, perficit» usf.3 Aber dieses wahre und in der Tat sehr katholische Axiom sagt auf keinen Fall, daß die Natur durch die Gnade bloß «ergänzt» oder zu ihrer angestammten Vollkommenheit gebracht wird; es birgt – verbirgt auch zum Teil – ganz andere Dimensionen. Im Menschlichen gibt es Dinge, die in dessen historischem Wesen zentral geworden sind und die von der «Gnade» bis auf den Grund abgetragen werden müssen, damit der Mensch, der «von Natur (!) ein Kind des Zornes ist» (Eph 2,3), zu einem Kind Gottes umgeschmolzen, ja «aus Gott geboren» werden kann. Am Kreuz Christi zerbricht alle direkte Kontinuität zwischen natürlicher und übernatürlicher Güte oder Vollkommenheit; erwählt doch Gott mit Vorbedacht gerade «das, was die Welt für töricht hält, um die Weisen zu beschämen, was die Welt für schwach hält, um das Starke zu beschämen, was vor der Welt ohne Adel dasteht und nichts gilt und nichts ist, um das, was etwas ist, zunichte zu machen, damit kein Fleisch sich rühme vor Gott. Von ihm aus seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott zur Gerechtigkeit gemacht ist, zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung» (1 Kor 1,27ff.).
Diese harte Rede wird nun von Augustinus in seiner «Civitas Dei» systematisch auf das Verhältnis zwischen Römerreich und christlichem Reich angewendet, und die Aussage ist wohl nicht zu stark, daß dieses für die christliche Geschichtstheologie grundlegende Werk die Kritik, ja Zerstörung dessen besagt, was oben als das «römische Prinzip» bezeichnet wurde. Die politische Weisheit und vor allem die Macht Roms, sein Bewußtsein, «etwas zu sein», wird von Augustin im Namen des Evangeliums als eine zwischen Un- und Widerchristlichkeit schwankende Geschichtsmacht entlarvt; er bedient sich dabei der pessimistischen Romschilderungen Sallusts, der sein Vaterland des Hochmuts und der unersättlichen Besitzgier zeiht. Augustin verkennt nicht gewisse Tugenden der Römer und stellt sie, auf ihrer Ebene, zuweilen auch als Vorbild für die Christen hin; aber nach ihm bleiben diese Tugenden allesamt unterhalb des Pegelstandes, von dem aufwärts von echter, christlicher Tugend geredet werden kann. So ist es folgerichtig, daß Augustin die wahre Humanität entsprechend dem Wort Pauli an die Korinther ganz von Christus her versteht: Er ist uns durch Gott zur exemplarischen Gerechtigkeit gemacht, weshalb Augustin auch die christlichen «Humaniora» nicht von den antiken Klassikern, sondern aus dem Schatz des Christlichen entwickelt sehen möchte. Die schärfste Absage an das «römische Prinzip» bilden seine vier Predigten anläßlich des Brandes und der Plünderung Roms unter Alarich (410): seinen entsetzten und an der Vorsehung zweifelnden Zeitgenosssen – ist Rom denn nicht «ewig»? – erklärt er gelassen, der Untergang der Stadt sei nichts Bedeutenderes als das Ende irgendeines andern der großen weltlichen Reiche – Assur, Babylon, das Reich Alexanders –‚ und daß das Reich Gottes davon nicht im mindesten tangiert werde. Diese Predigten sind, wie die «Civitas Dei», nicht tief genug beherzigt worden, denn im Laufe des Mittelalters und bis in die Neuzeit hinein wurde mehr oder weniger zäh an einem voraugustinischen «römischen Prinzip» festgehalten, freilich nicht ohne das Gegenmotiv, daß jenes Rom, das in der Bibel als «Babylon» bezeichnet wird (1 Petr 5,13; Apk 17), schon früh mit der Gestalt des Antichrist zusammengesehen wurde, in der – etwa vom Jahr 1000 an bis hin zur Reformation – der Papst und sein Machtanspruch zuweilen erschien.
Nun wird natürlich an dem Satz «gratia praesupponit naturam» die positive Seite nicht ungestraft übersehen, sonst würden wir einer Verketzerung des Schöpfers oder der Lehre einer totalen Verderbtheit der menschlichen Natur durch die Sünde (bis zur Auslöschung der Gottebenbildlichkeit in ihr) verfallen. Aber die Möglichkeit der Gnade, an Werte der Natur anzuknüpfen und sie zu veredeln (nie freilich ohne sie auch im Kreuz zu demütigen), besagt nie ein Angewiesensein auf sie. Das gilt von der geschichtlichen Beziehung zwischen christlicher und antiker Kultur im allgemeinen, und im besonderen von der Beziehung des kirchlichen Primats zur Stadt Rom. Es wäre ein Rückfall, anzunehmen, daß Rom für die Christen so etwas sei wie es Jerusalem für die Juden war oder ist. Nach der Auferstehung Jesu gibt es keine Bindung an ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Stadt mehr, alle Länder und Städte sind gleich heilig und gleich profan (Palästina inbegriffen). Gewiß können (zu Recht oder zu Unrecht) gewisse Orte, an denen zum Beispiel Märtyrerleiber ruhen oder eine Erscheinung stattgefunden hat, zu Wallfahrtsstätten werden, aber auch dies niemals im Sinn des Tempels von Jerusalem (oder vor her der wandernden Stiftshütte oder Bundeslade), welcher einmalige Kultstätte war. Deshalb ist es theologisch gleichgültig, ob Petrus (was geschichtlich höchst wahrscheinlich ist) in Rom war und starb, und ebenso theologisch gleichgültig ist, ob einer seiner Nachfolger dort oder anderswo residiert. «Verbannt» war das Papsttum in Avignon oder Fontainebleau oder Savona oder Gaeta nur insofern, als es gewaltsam von weltlichen Mächten dorthin gezwungen wurde. Ist denn, nach dem Neuen Testament, die Kirche nicht überall auf Erden in der Verbannung? Natürlich sollen sinnvoll gewachsene Strukturen auch in der Kirche – zum Beispiel der aus den römischen Suburbankirchen gewachsene Kardinalat – nicht mutwillig zerstört werden. Aber ein Theologumenon ist dieses ebensowenig wie die Patriarchate eines sind, und es lassen sich andere Formen der Wahl des Nachfolgers Petri denken.
Daß das Papsttum von dem epochalen Menschheitsumbruch nicht unberührt bleiben kann und darf – falls es lebendig in diese unsere Epoche hineinwirken soll –‚ ist nochmals selbstverständlich. Ein bestimmtes Verhältnis von Antike und Christentum, das bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein kulturbestimmend war, kann schon deshalb, weil die Zivilisation planetarisch geworden ist, das Kolonialzeitalter unwiederbringlich dahin ist und der Kirche eine andere Stellung zu fremden Kulturen auferlegt ist, nicht mehr allgemein normativ sein. Sofern damit Werte wie die Pietas, die Tradition und die naturhaft verständliche Autorität in die Krise geraten sind, ist die Stellung der christlichen Botschaft im ganzen – und die Ausübung des geistlichen Amtes ist nur ein Aspekt davon – der Menschheit gegenüber sehr viel schwieriger geworden. Man würde zu klein und auf zu niedriger Ebene denken und argumentieren, wollte man in diesem riesigen Kontext die Psychologie der letzten Päpste, zumal des heute amtenden, ins Spiel bringen. Wie die gesamte Christenheit durch die Probleme der Weltgegenwart und -zukunft überfordert ist, so ist es auch das päpstliche Amt. Es mag tun oder unterlassen, was es will, immer wird Anlaß sein, es zu kritisieren. Dem Christentum ist die Meisterung der Weltprobleme nicht als Verheißung auf den Weg gegeben worden. Wir müssen sogar mehr zu sagen wagen: die heutigen ins Katastrophische sich auswachsenden Weltprobleme sind durch eine, innerweltlich gesehen, fatale Kette mitausgelöst worden: christliche Offenbarung – Säkularisierung – Technik – Reichtum der die Technik beherrschenden Völker und damit ungerechte Güterverteilung. Die Frage, wie das Christentum, das diesen Geschichtsgang mitverursacht hat (der sich heute längst von ihm befreit hat), sich nochmals neu als ein Prinzip menschlicher Gerechtigkeit anempfehlen kann, ist ungeheuerlich lastend. Wer wollte die Antwort darauf einem Amt wie dem Papsttum, gar einer Person, dem amtenden Papst, überantworten?
Von geschichtlicher Evolution steht in der Bibel nichts. Evolution kann kein Theologumenon sein, weil mit Christus die Fülle, «das Ende der Zeit» angebrochen ist, und nur noch die Konsequenzen dieser Präsenz sich auswirken können. Diese heißen – zumal wenn man die Geschichte nach Christus als Freiheitsgeschichte liest – schlicht: Steigerung und Intensivierung des Ja und des Nein zu diesem Endzeitprinzip. Das aber heißt Apokalypse. In ihr Zeitalter sind wir eingetreten, die Geschichte mag so lange weiterdauern, als sie will oder muß. Wie aber kann sich das päpstliche Amt in diesem Zeitalter benehmen? Die Frage ist insofern neu, als die Kirche sich nicht mehr den vorchristlichen weltlichen Machtkolossen wie Assur und Rom gegenübersieht, sondern den durch die Präsenz des Christlichen aufgeweckten apokalyptischen Tieren. Sie zeichnen die Stirnen der Menschen mit einem andern Zeichen als die römischen Kaiser die Stirnen ihrer Untertanen, was zu den Martyrien der ersten christlichen Jahrhunderte führte.
Mit Menschen, nichtchristlichen, kann die Kirche verhandeln. Mit apokalyptischen Tieren gibt es keine Verhandlungsmöglichkeit, da es keine Hoffnung auf ihre Bekehrung gibt, wie die frühe Christenheit auf die Bekehrung des Kaisers hoffen konnte. Furchtbar wäre es, wenn das kirchliche Amt den Tieren die Schale gefüllt mit dem «Blut der Heiligen und dem Blut der Zeugen Jesu» (Apk 17,6) hinhalten würde, um sie zu beschwichtigen. Würden Menschen, die im Bereich der Tiere leben, sich einmal zu Christus bekehren (was ja vielleicht prophezeit sein mag), sie müßten sich mit Abscheu von einem Amt abkehren, das solches, wenn auch in bester Absicht, getan hat.
«Gratia praesupponit naturam» ist ein Satz, der bei aller Überspannung durch das Prinzip Kreuz immer gelten wird, und wenn man dies das «römische Prinzip» nennen will, so mag man es, obschon es mißverständlich ist, tun. Man erkennt die Gültigkeit des Satzes an seiner Grenze: Gnade kann nicht das schlechthin Unnatürliche voraussetzen, das keine Gegenwart hat: «es war und ist nicht und wird aus dem Abgrund steigen und ins Verderben dahingehen» (Apk 17,8).

Hans Urs von Balthasar
Título original
Gibt es ein “Römisches Prinzip”?
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Ficha técnica
Idioma:
Alemán
Idioma original:
AlemánEditorial:
Saint John PublicationsAño:
2025Tipo:
Artículo