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Amt und Existenz
Wer ein Amt hat, hat eine Vollmacht, zugunsten der Gemeinschaft Autorität, Befehlsgewalt auszuüben. In einer Demokratie unterliegt die Amtsführung der Kontrolle der Gehorchenden: sie haben den Beamteten gewählt und mit der Vollmacht ausgestattet; sie beurteilen deshalb, wieweit die Amtsausübung dem Nutzen des Gemeinwohls entspricht. Der Gehorsam ist kritisch, er geht nicht grundsätzlich über die Einsicht der Gehorchenden hinaus. In der Verfassung des alt- und neutestamentlichen Gottesvolkes, die nicht demokratisch, sondern theokratisch und christokratisch ist, kann dieses Modell nicht Geltung haben. Denn hier wird die Vollmacht nicht vom Volk, sondern von Gott und von Christus verliehen. Dies gilt für den ganzen biblischen Raum, auf dessen Darstellung wir uns in diesem Aufsatz beschränken, aber in der Absicht, zwei aktuelle Fragen dadurch anzuleuchten: Gibt es christliche Amtsausübung, die von der Existenz des Beamteten nicht gedeckt ist? Gibt es eine kritische Funktion der Gehorchenden, auch wenn die Verleihung der Vollmacht nicht von ihnen ausgeht?
1. Einheit von jeher
Alle Hauptgestalten, die das alt- und neutestamentliche Geschehen tragen, sind gekennzeichnet durch die Einheit von Auftrag und Existenz. Der Auftrag ergeht immer von Gott her. Und der Mensch, dem er zuteil wird, ist immer mit seinem ganzen Dasein in diesen Auftrag eingefordert. Der Akt, in dem er sich ihm zur Verfügung stellt – man mag ihn als Glaube, Sich-vertrauen, Gehorsam, Sich-führen-lassen oder wie immer bezeichnen – enteignet ihn bis in seine privateste Sphäre zugunsten seines Dienstes, der immer ein Dienst am Volk Gottes ist. In sein Amt hinein expropriiert, übernimmt der Beauftragte in unbeschränktem Gehorsam existentielle Verantwortung. An Moses sieht man, daß ein leiser Ungehorsam oder Unglaube Gott gegenüber hart gestraft wird, weil die ganze schwere Verantwortung für das notleidende Volk sich keinen Augenblick auf private Überlegungen stützen darf, sondern immer der Ausdruck des Willens Gottes bleiben muß. Das geht nur, wenn der Beauftragte in lebendiger Fühlung mit dem göttlichen Auftraggeber bleibt, in einem Gebetsgehorsam.
Solche Fühlung hat Abraham mit Gott, auf dessen Glauben – zugunsten seiner zukünftigen Nachkommenschaft – seine ganze Existenz gestellt ist: bis zum blinden Gehorsam, der den Sohn der Verheißung zu opfern bereit ist, ohne Gott «kritisch» des Widerspruchs zu zeihen. Moses’ widerspenstiger Eigensinn in seiner Berufungsgeschichte wird von Gott gebrochen, anders hätte er weder der Vermittler zwischen Gott und dem Volk noch der weise Volksführer werden können. Josue wird von Jahwe als der rechte, «geistbegabte» Nachfolger bezeichnet, dem die Hände aufgelegt werden sollen (Num 27,18), und Jahwe weist Josue selber an, «Tag und Nacht das Gesetz des Herrn zu meditieren, damit du entsprechend handeln kannst» (Jos 1,8). Jahwe war es auch, der «Richter erweckte» und «mit den Richtern war», sie jäh mit seinem Geist überfiel (Richt 2,16.18; 3,10 usf.). Da die soziologischen Strukturen des Volkes sich stabilisieren, ist er es, der den König wählt, ihn, weil sein Gehorsam nicht vollkommen ist, verwirft und durch einen andern bessern ersetzt («Ich habe mir einen König gewählt», 1 Sam 16,1). Und wenn Gott von David an das Erbkönigtum verbürgt, so nicht ohne die Einschränkung, daß, wenn ein Nachfolger Amt und Gehorsam trennen sollte, er ihn strafen wird «mit einer Menschenrute und mit Hieben, wie Menschen sie austeilen» (2 Sam 7,14). Die Einrichtung des Priesteramtes: fußt auf einer analogen totalen Existenzweihe (Entscheidung für Jahwe Dt 38,8ff., Hinopferung anstelle der Erstgeborenen, die Jahwe gehören, Num 3,12ff., kein Anteil am Land: «Jahwe ist ihr Erbteil», Jos 13,33)1. Und wenn die Anfänge der Prophetie im Dunkeln liegen – immerhin erscheint das Prophetendasein von Anfang an als eine Existenzform (vgl. 1 Sam 19,20) – so nimmt der prophetische Auftrag einen Elias restlos in Beschlag, und bei den großen Schriftpropheten bohrt sich der Anspruch des Wortes Gottes immer tiefer in das persönliche Leben des Propheten hinein (Jeremias, Ezechiel) bis hin zum idealen Hörer des Wortes (Is 50,4), der nicht nur sein wahrer Täter, sondern sein vollkommener Erleider wird: der Schattenriß des kommenden Erlösers.
Dieser, Jesus Christus, ist die Identität von Amt und Existenz schlechthin, der personifizierte Auftrag: das Wort des Vaters als Sohn, und der Sohn des Vaters als dessen Wort. Daß beides in ihm irgendwann noch unverbunden gedacht werden könnte, wird von der Reflexion der neutestamentlichen Schriftsteller auf sein Wesen und seine Geschichte immer kategorischer ausgeschlossen. Er ist und weiß sich und gibt sich als das Wort, das Fleisch geworden ist. Das vollendet sich in dem Paradox, daß er in seiner stellvertretenden Passion Priester und Opfer zugleich ist: amtlich befugter Vollstrecker und existentiell das Letzte (der Gottverlassenheit) Erduldender. Soll es nach ihm in seiner Kirche nochmals amtliche Vollmacht geben – und er hat solche höchst ausdrücklich verliehen (Mk 3,15; 6,7; Mt 10,1; Lk 9,19; Mt 16,19; Joh 21,15ff.) – so kann das nur in engster Verbindung mit einer Existenzform geschehen, die einerseits Forderung totaler Verfügbarkeit für den Auftrag sein muß (Mt 8,18ff. usf.), anderseits mehr noch eine Verheißung ist: gerade dem obersten Repräsentanten des kirchlichen Amtes wird der Tod am Kreuz verheißen (Joh 21,19), und im hohenpriesterlichen Gebet werden die anwesenden Apostel «in Wahrheit geweiht» in die gleiche Lebens- und Opferweihe wie die Jesu hinein (Joh 17,17.19). Vom amtlichen Priester des Neuen Bundes, Jesus, her gesehen, ist eine solche Teilnahme der nachkommenden Beamteten an seiner Priester-Opfer-Identität nichts Beliebiges, Akzidentelles, Übergebührliches, sondern das Stigma neubundlichen Amtes. Irgendwo haben das spätere Häretiker wie die Montanisten und Donatisten richtig gefühlt, wenn sie auch die verkehrte Schlußfolgerung daraus zogen, daß ein christlicher Priester, der seine amtliche Heiligkeit nicht existentiell lebt, unfähig sei, die Gnade Christi dem Gottesvolk zu vermitteln. Daß er theologisch ein Monstrum, eine «unmögliche Möglichkeit» ist, ist für alle klar. Nur ist diesem Monstrum nicht soviel Macht eingeräumt, daß er das Werk Christi und die Existenz seiner Kirche zerstören könnte. Abschließend sind Leben und Schriften Pauli die Besiegelung der Möglichkeit, in der Nachfolge Christi die amtliche Vollmacht mit der Existenz zur Deckung zu bringen, und Paulus bleibt Modell für alles spätere Amt. Timotheus hat ihn «zur Richtschnur genommen: meine Lehre, meine Lebensführung, mein Lebensziel, mein Glaube, meine Standhaftigkeit, meine Liebe, meine Geduld, … meine Verfolgung, meine Leiden» (2 Tim 3,10f.). Paulus argumentiert immerfort mit seiner Existenz, als Demonstration der von ihm verkündeten Lehre, auch wenn er sich darin keineswegs mit Christus gleichsetzt; er ist nur «Botschafter an Christi Statt» (2 Kor 5,19), aber immerhin sein «Mitarbeiter» (so bezeichnet er auch die übrigen Beamteten, Röm 16,21; 1 Kor 3,9; 16,16; 2 Kor 8,23; Phil 2,25; 4,3); aus seiner Erwählungsgnade und in seiner Glaubenshingabe nimmt er teil an der in Christus bestehenden und von ihm mitgeteilten Identität von Amt und Existenz.
2. Identität in Christus. Ihre Weitergabe
Bisher haben wir die Kontinuität von Abraham und Moses bis Paulus gesehen: kein bedeutendes Amt wird im biblischen Raum von Gott verliehen, ohne daß sein Träger die ganze Existenz zur Verfügung stellte. Aber dieses durchgehende Grundgesetz erfährt vom Alten zum Neuen Bund eine Verschärfung, dadurch bedingt, daß Israel ein «fleischliches» Volk war, während die Kirche das «geistige Israel» ist; dort waren noch soziologische Gesetzlichkeiten wirksam, die mit Jesus verschwinden. Der Hebräerbrief hebt den Bruch scharf und fast einseitig2 heraus: das institutionelle altbundliche Priestertum ist aufgehoben in dem einzig-artigen und deshalb ein-(füralle-)maligen existentiellen Priestertum Christi. Aber diese notwendige Feststellung will weder leugnen, daß schon im Alten Bund ein Ineinander von Amt und Existenz bestand, noch daß es im Neuen Bund solche Existenzen wird geben können, die besondere amtliche Aufträge verkörpern, sie will nur der volkhaften, unpersonalen Institution – wie dem erblichen Priester-und Königtum – ein Ende setzen. Wenn bei den alten Völkern der König rein aufgrund seines Amtes als inspiriert galt, wenn in Israel der Priester rein aufgrund seiner ererbten Funktion ein gewisses prophetisches Charisma für die Erklärung des Wortes Gottes besaß, so war dieses gleichsam naturhafte Element und insbesondere sein anmaßlicher Mißbrauch von den Propheten bereits scharf kritisiert worden. Jeremias hatte sich den politisierenden, nicht von Jahwe beauftragten «Friedenspriestern» und «-propheten» höhnisch entgegengestellt (6,14; 8,11; 23,17 usf.); noch im nachexilischen Psalm 85 hören wir einen solchen «Kultpropheten» sein «priesterliches Heilsorakel» verkünden. Das Magische und Automatische am alten Kult, das vom existentiellen Glauben zu dispensieren schien – ganz abgesehen von der Duldung des Götzendienstes im Tempel –: das ist es, was die Propheten kritisierten. Und Jesus selbst, der im Tempel betet und die liturgischen Feste besucht, den Geheilten zu den Priestern schickt, sogar die «Kathedra» der Pharisäer und Schriftgelehrten achten lehrt, kritisiert nicht das bestehende Amt und seine Autorität als solche, sondern ihren Mißbrauch. Er weiß, daß die vollkommene Identität von Amt und Existenz erst durch ihn verwirklicht wird, die bisherigen Ansätze deshalb alle nur vorgreifend auf ihn Geltung beanspruchen können (Lk 24,25ff.; Joh 5,46; 8,56). Wenn der Hebräerbrief den Abstand zwischen der früheren «bloßen» Institution und der jetzigen Erfüllung im personalen Gehorsam Christi unterstreicht, so zeigt umgekehrt das Motiv des Hirten, das Jesus aus dem Alten Bund übernimmt und auf sich selbst anwendet, die ungebrochene Kontinuität3.
Gott ist der Hirte Israels (Ps 23): in diesem Bild sind, als im Ursprung, Autorität und Einsatz vollkommen identisch. Und von diesem Ursprung her setzt Gott ihn stellvertretende «Hirten» in Israel ein – Moses und David waren wirkliche Hirten4 – Hirten, die in seinem Auftrag und Geist die Herde für ihn weiden sollten. Und wenn die Hirten anfangen «sich selber zu weiden» statt die Herde, und diese sich in den Bergen verirrt, verheißt Gott (Ez 34), selber einzugreifen und für seine Herde «zu sorgen», «das verlorene Schaf zu suchen, das verirrte zurückzuführen, das verletzte zu verbinden, das kranke zu heilen», Böcke und Schafe zu trennen usf., und dies indem er «einen Hirten erwecken wird, meinen Diener David» (34,23), so daß «ein einziger Hirt für sie alle sein wird» (37,24). Im synoptischen Gleichnis schildert Jesus den Gott-Hirten, der (in ihm) das verirrte Schaf suchen geht und heimführt. In der johanneischen Hirtenrede zeigt er, daß er dieser Gott-Hirte selbst ist, indem er im Auftrag, in der Vollmacht des Vaters bis zur Hingabe seines Lebens für seine Schafe gehen darf – in harter Abgrenzung von den Mietlingen, die zwar irgendein Amt bei der Herde versehen, aber vor dem totalen Einsatz zurückscheuen (Joh 10). Das Bild eines Hirten, der seine «oberhirtliche» (1 Petr 5,4) Vollmacht dadurch beweist, daß er für die Herde stirbt (und sie damit scheinbar im Stich läßt), ist ebenso paradox wie das Bild des Hebräerbriefs vom Hohenpriester, der «mit seinem eigenen (vergossenen) Blut» lebendig vor Gott hintritt (Hebr 9,12); es ist im Grunde dasselbe Bild und dasselbe Paradox, da beidemale die absolute Bevollmächtigung gerade aus dem absoluten Einsatz hergeleitet wird: Jesus ist der «gute (d. h. richtige) Hirt», und gleichzeitig der «große» Hohepriester (Hebr 4,14). Es ist das Paradox der Verheißungsrede, in der Jesus mit der Vollmacht auftritt, jene am Jüngsten Tag zu erwecken, die sein Fleisch essen und sein Blut trinken, sich also zu seiner Vernichtung im Tod bekennen, aus dem er zum «Leben der Welt» werden kann (Joh 6). Eine solche Vollmacht, die ihm der Vater gegeben hat, streift irdisch gesehen, an das Wahnsinnige: an den Selbstmord (Joh 8,22), ist es doch die Vollmacht, das eigene Leben «freiwillig abzulegen» (Joh 10,18). Überstiegen wird dieser Wahnsinn nur, wenn man in Jesus die Identität von Vollmacht und Auftrag anerkennt: er ist sosehr personifizierter Auftrag, daß es zuletzt der Vater ist, der den Akt der Hingabe vollzieht (Joh 3,16; Röm 8,32), so daß im freien Tod des Sohnes nur die ganze Freiheit des Heilshandelns Gottes sich offenbart.
Hier ist alles personal geworden, der letzte Rest von völkisch-irdischer Institution ist verschwunden. Und wenn nun Jesus die alttestamentlichen Hirtenvollmacht und Hirtensorge – durch ihn vollendet – an Petrus und seine «Mitältesten» weitergibt, so geht es immer noch um das Gleiche wie im Alten Bund: Stellvertretung Gottes, seiner Autorität und seines Einsatzes, aber nunmehr geprägt vom personalen Einsatz Christi, und mit einem zugemessenen Teil an seiner unbeschränkten Vollmacht (Mt 28,28). Im Alten Bund wie im ganzen Vorderen Orient war das Hirtenbild zunächst Bezeicnung des Königs (nicht des Priesters, sofern er dem König gegenübersteht, auch nicht des Propheten), aber eben des seiner Aufgabe bewußten, gewissenhaften, «guten» Königs. Von daher eignet Jahwe sich das Symbol selber an, mit seiner unumkehrbaren Abfolge von Attributen: Autorität – Einsatz. Noch im ältesten Teil des äthiopischen Henochbuches (von 160 v. Chr.) wird ausführlich die Geschichte Israels als die einer Herde von Lämmern unter dem Kyrios als Hirten geschildert, auch Moses, Samuel, David werden hier als «Schafe» bezeichnet: der Hirt verkörpert die göttliche Autorität, aber immer auch Jahwes Einsatz für Israel (Kp. 88-90)5. Wo diese Autorität im Neuen Testament exklusiv auf die Person des Sohnes übergeht, hat jede andere religiöse Autorität sich zu ihr hin aufzugeben, und die vom Sohn ausgehende Autoritätsverleihung wird ausschließlich personal sein. Sie wird, in Entsprechung zur Existenzform des Sohnes, der als «zum Tod Gehorsamer» mit der Autorität des Vaters investiert wird, christlich nur dort verliehen, wo sie auf totale Lebensbereitschaft stößt («Simon, liebst du mich mehr als diese?»), ja auf eine Bereitschaft, die über das eigene Wollen hinausgeht («Man wird dich führen, wohin du nicht willst»). In seiner Magna Charta für den Klerus gibt Petrus weiter, was er empfangen hat: Autorität soll ausgeübt werden, als ein «ungezwungenes, vielmehr bereitwilliges Weiden der Gottesherde, gemäß Gottes Auftrag», ferner: «ohne schimpfliche Gewinnsucht, sondern mit Hingabe, und nicht als wäret ihr die Herren des Erbes, sondern als Vorbilder der Herde» (1 Petr 5,2f.). Der bei Paulus stets wiederkehrende Ausdruck für Gemeindeleitung (seine eigene und die seiner Mitarbeiter) ist «kopiän», «sich abschinden», «sich erschöpfen»: und gerade weil dieser Einsatz den Christen vor Augen steht, sollen sie sich «unterordnen» (1 Kor 16,16), die Vorsteher «achten» (1 Thess 5,12), ihnen die Frucht für ihre Anstrengung nicht verweigern (2 Tim 2,6). Nicht anders sieht Hebr 13,7 Autorität und Lebenseinsatz in Einheit: «Gedenkt eurer Vorsteher, die euch das Wort Gottes verkündet haben» – Autorität und Verkündigung werden ineins gesehen – «verweilt betrachtend beim Ausgang ihres Lebenswandels und ahmt ihr Glaubenszeugnis nach».
3. Gehorsam und Kritik in der Kirche
Zu Beginn wurde gesagt, daß Autorität in der Kirche nur theo- und christokratisch, niemals demokratisch verstanden werden kann; darin ist die nötige Sicherheitsvorrichtung schon eingebaut: Christus hat Autorität, sofern er gehorsam ist bis in den Tod, und in diesem Gehorsam (an den Vater) zum Diener aller wird. Wie sich dies kirchlich umsetzt, kann man bei Paulus sehen, der sich als «Diener und Verwalter der Geheimnisse Gottes» versteht; «von Verwaltern erwartet man nichts weiter, als daß einer treu erfunden werde… Mein Richter ist der Herr.» Er ist nicht bereit, vor der Gemeinde oder einer andern menschlichen Instanz Rechenschaft abzulegen, er warnt die Gemeinde auch, ihn «vor der Zeit (des Gerichtes Gottes) zu beurteilen» (1 Kor 4,1-5). Hingegen legt er seinen Lebenswandel vor der Gemeinde so offen hin, daß sie selber den Vergleich zwischen seiner amtlichen Tätigkeit und seiner Existenz anstellen kann und soll. Dieser Vergleich, bei dem die Korinther auch ihr eigenes Verhalten mit ihrem Glauben vergleichen mögen, wird zugunsten des Apostels und zuungunsten der Gemeinde ausfallen: denn «wir sind Toren um Christi willen, ihr seid klug in Christus; wir sind schwach, ihr seid stark, ihr seid geehrt, wir verachtet… ihr seid bereits satt, bereits reich geworden, seid ohne uns zur Herrschaft gelangt!» (1 Kor 4,10.8). Diesen Gegensatz kann man theologisch auslegen: «So ist in uns der Tod, in euch das Leben wirksam» (2 Kor 4,12): die Nähe des Apostels zum Christusleiden «verdient» der Gemeinde ihre Nähe zur Auferstehung. Man kann ihn aber auch als eine große Gefahr verstehen: ihr Demokraten und mündige Christen meint schon jenseits des Kreuzes in einer eingebildeten Auferstehung zu leben, wir gedemütigte Amtsträger stehen unter dem Kreuz. Weil das aber der einzige dauernde Zugang zum Auferstehungsleben ist und bleibt, fängt Paulus mit seiner Glaubensschule wieder beim ersten Kapitel an: «Damit das Kreuz Christi nicht ausgehöhlt werde», will er in Korinth «nichts anderes wissen als Jesus Christus, und zwar den gekreuzigten» (1 Kor 1,17; 2,2).
Aber hat das Volk Gottes nicht das Recht, in seinen Vorstehern die Einheit von Autorität und Einsatz wahrzunehmen und sich deshalb auch ein kritisches Urteil zu bilden, ob und wieweit diese Einheit feststellbar sei? Hat es nicht – als Voraussetzung für ein solches Urteil – selbst den Geist Gottes in den von Ihm verteilten Charismen erhalten, um dieses Urteil mit einer mündigen Sachkunde zu fällen? Versagt hier also nicht das Bild von Hirt und Herde durchaus, sofern dieses die Autorität allein dem Hirten, den Gehorsam allein der Herde vorzubehalten scheint? Aber eben dieser Schein ist seit Christi Todesgehorsam zerstreut. Und hier hakt Paulus ein, um die scheinbar verwirrende, ja unentwirrbare Dialektik von Gehorsam und Kritik in der Kirche aufzulösen. Die Kritik, die keineswegs apriori als ungebührlich abgelehnt wird, hat eine wesentliche Voraussetzung: daß die Kritiker sich selber prüfen, ob sie «im Glauben stehen», ob sie sich «dessen bewußt sind, daß Jesus Christus in euch ist» (2 Kor 13,5). Natürlich jener Jesus Christus, dessen Mysterium des Todesgehorsams die Voraussetzung für seine auferstandene pneumatische Existenz ist und bleibt. Würden die Kritiker diese Prüfung nicht vornehmen, so wären sie «unbewährt». Sie stünden nicht in der Mitte der christlichen Existenz, von der aus allein man die christliche Existenz eines Amtsträgers beurteilen kann. Paulus hofft aber, «ihr werdet erkennen, daß wir nicht unbewährt sind», und zwar gerade, weil er in seiner Existenz Christus und seiner Autoritätsform gleichgestaltet ist: «zwar wurde er aus Schwachheit gekreuzigt, aber er lebt aus Gotteskraft. So sind auch wir wohl schwach in ihm, werden uns aber mit ihm lebendig erweisen aus Gotteskraft euch gegenüber» (13,4). Er hofft also, daß sie aus der Glaubenserfahrung des Christusmysteriums das Paradox der kirchlichen Autorität («wenn ich schwach bin, dann bin ich stark» 12,10) verstehen werden. Und wieder ist er bereit, ihnen die Glanzrolle der Mündigkeit zu überlassen, und für sich die stellvertretende Demütigung zu übernehmen: «Wir beten zu Gott, daß ihr nichts Arges tut, nicht damit wir bewährt erscheinen, sondern damit ihr das Rechte tut, auch wenn wir dann als Unbewährte dastehen… Wir freuen uns, wenn wir schwach sind, ihr dagegen stark seid.» Denn die ganze Autorität des neutestamentlichen Amtsträgers hat ihren Sinn nur im Aufbau der Gemeinde. Hier erscheint nochmals der Gegensatz zwischen der «fleischlichen» Autorität im Alten Bund und der «geistlichen» im Neuen. Während Jeremias die Vollmacht erhält «zum Ausreißen und Umstürzen, zum Vernichten und Zerstören, zum Bauen und Anpflanzen» (Jer 1,10), sagt Paulus, offenkundig daran anknüpfend: «Ich schreibe euch dies in Abwesenheit aus dem Grunde, damit ich bei meiner Anwesenheit nicht streng aufzutreten brauche in Kraft der Vollmacht, die der Herr mir zum Aufbauen, nicht zum Niederreißen verliehen hat» (2 Kor 13,10). Zwar hatte er vorher gesagt, daß er nicht mit fleischlichen, aber mit wahrhaft mächtigen (geistlichen) Waffen «Bollwerke niederreißen, Trugschlüsse zerstören, und jede Burg, die sich wider die Erkenntnis Gottes aufreckt», schleifen kann (2 Kor 10,4f.). Aber das Entscheidende ist, daß er diese Vollmacht immer nur im Einvernehmen mit der glaubenden, verstehenden, billigenden Gemeinde ausüben will. So schon bei der Ausschließung des Blutschänders: Paulus hat das Urteil bereits gefällt, will es aber mit der im Geist um ihn versammelten Gemeinde gemeinsam vollziehen (1 Kor 6,3ff.). Er ist «bereit, jeden Ungehorsam zu strafen, wenn erst einmal euer Gehorsam vollkommen ist», so daß dieser in die Berechtigung dieser Strafe einstimmen kann (2 Kor 10,6). Er kann mit einer «nackten» Autoritätsausübung drohen, für den Fall, daß die Gemeinde mit ihrer Autoritätskritik aus der kirchlichen Communio des Glaubens- und Liebesgehorsams herausgefallen wäre; aber er versteht eine solche Situation als einen im Grunde unmöglichen Grenzfall, der ein Fiasko der Kirche offenbaren würde: das Zerbrechen der Communio, die nach Paulus ihre innere Form durch das christusförmig gelebte Amt erhält. «Ich fürchte nur, ich möchte euch bei meiner Ankunft nicht so finden, wie ich es wünschte, und ihr möchtet mich so finden, wie ihr es nicht wünscht: es möchten Zwistigkeiten herrschen, Reibereien, Streitigkeiten, Verleumdungen, Zwischenträgereien, Überheblichkeit und Unordnungen, (ich fürchte), mein Gott möchte mich bei meiner Wiederkunft bei euch demütigen… Wenn ich wiederkomme, werde ich keine Schonung üben. Ihr verlangt ja einen Ausweis, daß Christus in mir redet» (2 Kor 12,20f.; 13,2f.). Sofern dieser Ausweis in einem Geist des «(Gott)versuchens» und der «Kontestation» (Massa und Meriba: Ex 17,7) gefordert wird, kann er von der Autorität nicht so gegeben werden, wie er kirchlich vorgesehen ist, sondern in der Verhüllungs- und Verdemütigungsform reiner Vollmacht. Daran ist dann aber die Gemeinde in ihrer Unbewährtheit schuld.
Damit ist nicht gesagt, daß die Gemeinde der Autorität gegenüber keinerlei kritische Funktion ausüben kann und soll. Da die Leiter der Gemeinden alle Kirchenglieder «zur Ausübung ihres Dienstes» heranbilden und sie aus dem Zustand der Unmündigkeit im Glauben wie in der Existenz herausführen und zum «Sagen der Wahrheit in der Liebe» erziehen sollen (Eph 4,12ff.), da daraus alle Glieder «fest zusammengehalten werden» in gegenseitigem Dienst, besteht durchaus ein Austausch zwischen den Christen und ihren Vorstehern; auch Paulus will sich ja immer wieder von den Gemeinden erbauen, trösten, geistig begleiten und ermutigen lassen. Die «Paraklese» – als Tröstung wie als warnende Ermahnung – spielt zwischen allen Gliedern des Leibes Christi hin und her. Damit wird der positive Beitrag jedes Gemeindegliedes zum Aufbau des Ganzen, der auch ein kritischer Beitrag sein kann und muß, eingebracht. Daß Priester sich verfehlen können, daß aus der Gemeinde Anklagen gegen sie vorgetragen werden, und daß sie vom Bischof «in Gegenwart aller» zurechtgewiesen werden müssen, freilich «ohne Vorurteil und Parteilichkeit», ist schon in den Pastoralbriefen vorgesehen (1 Tim 5,20f.). Der Vorsteher soll unter anderem auch «nachgiebig» (3,3) sein. Aber immer wird vorausgesetzt (als ein nicht zu unterbietender Standard), daß er «ohne Tadel» sei, «ein Prägmal für die Gläubigen in Wort und Wandel, in Liebe, Glaube und Reinheit» (1 Tim 4,12) – so wie Paulus selbst sich als Prägmal (typos) verstand, das seinerseits von Christus geprägt worden ist. Unter dieser Voraussetzung bestärkt Paulus seinen Nachfolger in einer gewissen heiligen Unbeirrtheit, die äußerlich wie Unnachgiebigkeit aussehen kann, innerlich aber nichts anderes ist als Gehorsam und Verantwortung des Amtsträgers gegenüber seinem Herrn.
- Wir betrachten hier überall die Geschichte Israels, so wie sie aus seinem theologischen Selbstverständnis heraus formuliert worden ist. Nur dieses normative Bild kommt für uns in Betracht.↩
- Zu den in Hebr selbst vorhandenen und im übrigen NT sichtbaren Korrekturen vgl. Heribert Mühlen, Entsakralisierung. Paderborn 1971, S. 283ff.; ferner: Internationale Theologenkommission, Priesterdienst. Einsiedeln 1972.↩
- Zum Hirtenmotiv: Bibliographien bei Joach. Jeremias, Art. Poimēn. In: ThWNT (1959); Odo Kiefer, Die Hirtenrede. Bibl. Stud. 23, Stuttgart 1967; A.J. Simonis, Die Hirtenrede im Johannesevangelium, Analecta Biblica 29. Päpstl. Bibel-Institut, Rom 1967; I. de la Potterie, Le Bon Pasteur, Communio 11. Rom 1969.↩
- Vgl. Dominique Barthélemy, Zwei Hirten als Entdecker Gottes. In: Gott mit seinem Ebenbild. Umrisse einer biblischen Theologie (dt.). Einsiedeln 1966, S. 133-135.↩
- Vgl. A.J. Simonis, a. a. O., S. 161-168: Henoch als Hintergrund für Joh 10.↩

Hans Urs von Balthasar
Original title
Amt und Existenz
Get
Specifications
Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2025Type:
Article