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Alle Wege führen zum Kreuz
Gemeint sind alle Wege, auf denen Christen ihren Glauben zu leben versuchen, also alle sogenannten «Spiritualitäten», seien sie alt oder neu, die nichts anderes sind als existentielle Weisen, den Inhalt des Glaubensbekenntnisses in alltägliches Leben umzusetzen. Weil jeder Mensch als geistige Einheit ein einmaliges Abbild der unvergleichlichen Einheit Gottes ist, weil insbesondere jeder zur Gemeinschaft der Heiligen berufene Christ auch einmalig-persönlich in die Nachfolge des unvergleichlichen Herrn berufen ist, gibt es so viele spirituelle Wege, als es Personen gibt. Manche dieser persönlichen Wege haben Familienähnlichkeiten und können sich zu mehr oder weniger profilierten «Spiritualitäten» zusammenschließen. Aber zwischen diesen kann es keine Scheidewände geben, sondern nur gegenseitige Osmosen und Durchdringungen, denn alle können nur Variationen der einen Nachfolge Christi sein, wie dieser selbst sie im Evangelium schildert und von allen verlangt. Wenn er zuweilen gewisse Forderungen direkter an seine Jünger richtet als an das Volk, so, um jene rascher auf das vorzubereiten, was sie später von allen ihren Zuhörern werden fordern müssen: «Was euch ins Ohr geflüstert wird, das ruft von den Dächern.» Schon die Evangelisten beginnen damit, an die Jünger gerichtete Worte Jesu als Worte für alle zu schildern. «Zu allen aber sprach er: ‹Wer mein Jünger werden will, verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir›» (Lk 9,23 gegenüber Mt 16,24). Von eben diesem Wort aus soll im folgenden über die Stellung des Kreuzes in den kirchlichen Spiritualitäten nachgedacht werden.
Voraussetzungen einer integralen Kreuzestheologie
Das ungeheure Ärgernis des Kreuzes – das scheinbare Scheitern des Messias Israels in seinem wesentlichen Auftrag: das erwählte Volk zu sammeln, zu bekehren, der endgültigen Sendung entgegenzuführen – mußte die einstigen Jünger Jesu unablässig beschäftigen, wie ein dunkles Rätsel, von dessen Lösung Sein oder Nichtsein ihrer Existenz abhing. Vom Osterlicht aus zeigten sich die Elemente der Lösung, die sich sehr bald1 zu jener reichen, vielseitigen Synthese zusammenschlossen, wie die großen Theologen des Neuen Testaments, Paulus und Johannes, sie darlegen. Die Synoptiker bieten uns einerseits eine früh zu einer einheitlichen Erzählung gefaßte Passionsgeschichte, deutlich abgehoben von deren «ausführlicher Vorgeschichte», dem öffentlichen Leben Jesu, das sie kompositorisch vom Scheitelpunkt aus als bewußten Gang Jesu nach Jerusalem hinauf, seinem vorausgesehenen und vorausgesagten Leiden entgegen, schildern. Gewiß spielte die Weissagung des stellvertretenden Gottesknechts bei Jesaja für die Lösung des Rätsels eine bedeutsame Rolle. Aber die Hinweise Jesu selbst, daß er gekommen sei, so zu dienen, daß er sein Leben als Lösepreis für die Vielen einsetzen wird (Mk 10,45) und die Einsetzungsworte beim Abendmahl zeigen, daß ihm der umfassende Sinn seiner Passion durchaus vor Augen stand. Nimmt man – was von den Exegeten immer vergessen wird – hinzu, daß er sich selbst in die Reihe jener Propheten gestellt hat, denen Gott im voraus ihren totalen Mißerfolg ankündigt und die ihre Mission mit diesem Bewußtsein ausführen mußten, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Jesus wirklich auf die «Stunde» zugelebt hat, von der er so oft spricht, die er als die große Erledigung seines Auftrags herbeisehnt und vor der er sich zugleich ängstigt, die Stunde des Vaters, an die er nicht vorweg rühren will, aber auch die «Stunde und Macht der Finsternis», die über ihm so zusammenschlagen wird, daß er aller Möglichkeit, sie aus eigenen Kräften durchzustehen, entblößt wird und «mit Bitten und Flehen unter lautem Schreien und unter Tränen» um Abwendung des Unerträglichen bittet, (Hebr 5,7) zurückschaudert vor dem Trinken des Kelches, der (nach dem alttestamentlichen Bild) den Zorn Gottes über die Sünde der Welt enthält. Die ganze Passion bis hin zum Verlassenheitsruf ist dem unverstehbaren «Warum?», bis zum lauten Schrei, mit dem Jesus stirbt, ist reine Überforderung, das heißt Auferlegung einer Last, die mit natürlichen Kräften nicht getragen werden kann, die in der Schwachheit (Geißelung, Dornkrönung und Kreuzweg gingen schon voraus) nur als das Untragbare erlebt wird.
Schließt das nicht jede Nachfolge aus? Paulus kann einerseits sagen, er sei mit Christus gekreuzigt (Gal 2,19), trage seine Wundmale an seinem Leib (Gal 6,17), ja er leide auch, was an den Leiden Christi noch fehlt (Kol 1,24), andererseits weist er den Gedanken entsetzt von sich, er und nicht Christus sei für die Korinther gekreuzigt worden (1 Kor 1,13). Wenn die Zebedäussöhne auf die Frage Jesu: «Könntet ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?», ahnungslos und großspurig antworten: «Wir können es», dann kann ihnen Jesus wahrhaftig zusichern: «Meinen Kelch werdet ihr trinken» (Mt 20,22f.); er wird den Jüngern auch anderswo das gleiche Schicksal, das ihn trifft, – als Gnade – voraussagen, und zwar «um meinetwillen». Das heißt im Grunde so, daß seine Passion die ihre begründet und im voraus umschließt und ermöglicht, wie das Ganze den Teil, der vielleicht nur eine winzige Partikel sein wird, aber doch einbehalten und vorgesehen im Ganzen. Es kann dabei um äußere Verfolgungen bis zum Tod gehen, um den Haß der Welt, weil die Welt auch Jesus gehaßt hat (Joh 15,20-25), es kann aber auch um die innere Haltung gehen, die Jesus in den physischen Tod geführt hat, den Jünger aber in einen entsprechenden geistigen Tod führen muß: «Daran erkennen wir die Liebe, daß er sein Leben für uns dahingegeben hat. So müssen auch wir das Leben für die Brüder hingeben» (1 Joh 3,16). «Wer seine eigene Seele nicht haßt, kann mein Jünger nicht sein» (Lk 14,26). Was da verlangt wird, liegt offenbar auch nicht im Bereich oder in der Anspannung der rein natürlichen Kräfte, sondern ist ein Tun, in dem der liebende Glaube an Jesus die tragende Kraft ist und über alles (physisch und geistig) in uns Widerstrebende das Übergewicht hat.
Nicht zu vergessen ist, daß neutestamentlich das Kreuz als Sühne für die Sünde der Welt auch die zentrale Offenbarung der trinitarischen Liebe Gottes ist. Der Vater ist es, der seinen Sohn aus Liebe zur Welt in diese Finsternis preisgibt (Joh 3,16; Röm 8,32), und der Heilige Geist ist es, die göttliche Liebe beider, der es wirkt. Niemand könnte auf dem Weg der Nachfolge auf ein Golgotha geführt werden, es sei denn im offenen oder verhüllten Wissen, daß absolute Liebe der letzte, wenn auch im Leiden meist verborgene Grund des Geschehens ist. An den Selbstaussagen des Apostels wird dieses Wissen sehr deutlich, bis dahin, daß er versteht: seine Nachfolgeleiden haben teil an der Liebesfruchtbarkeit des Christusleidens, mehr als alle seine rastlosen Aktionen. Deshalb rühmt er sich mit Freude seiner «Schwachheiten, Mißhandlungen, Nöte, Verfolgungen, Bedrängnisse um Christi willen», «damit die Kraft Christi sich auf mich niederlasse», denn «wenn ich schwach bin, dann bin ich (als Christ und Missionar und Zeuge) stark» (2 Kor 12,9f.).
Kreuz als Existential
Ist das Kreuz so tief eingegraben in die Existenz des Nachfolgers, so doch auf andere Art als im Leben des «Vorausgehers» (Hebr 6,20). Denn für den irdischen Jesus liegt das Kreuz einzig vor ihm. Der Jünger dagegen folgt nach aus der Kraft der Auferstehung. Hätte er das Kreuz Christi nicht hinter sich – als den Grund seines Christseins –, so könnte er nicht darauf leben. Im Jubel des Gefundenwordenseins durch Christus kann Paulus ausrufen: «Ich möchte ihn kennen lernen, … die Teilnahme an seinem Leiden, ihm will ich im Tode ähnlich werden, ob ich etwa (dadurch ebenfalls) zur Auferstehung von den Toten gelange» (Phil 3,10f.). Der Christ kommt vom Kreuz Christi her (in der Taufe wurde er in dessen Tod begraben, Röm 6,4), um als grundsätzlich Mitauferstandener (Eph 2,6) nachfolgend auf das Kreuz zuzugehen.
So sind beim Christen Kreuz und Auferstehung nicht einzelne historische Momente seiner Existenz, sondern Existentialien, die sein ganzes Dasein durchwalten und bestimmen. Er soll und kann «täglich sein Kreuz auf sich nehmen», aber ebenso täglich als «mit Christus auferstanden suchen, was droben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt» (Kol 3,1). Beides, Gestorben- und Auferstandensein als «neuer Mensch», «neue Schöpfung», bestimmt sein ganzes Wesen. Tiefer gesehen kann man sagen: sein Wesen als ein Glied am mystischen Leib Christi, der Kirche, ist bestimmt von der Daseinsweise Christi in der gleichen Kirche, von der Eucharistie, die immerfort die Daseinsweise des hingegebenen Fleisches und vergossenen Blutes ist, aber nicht mehr im blutigen, einmaligen Opfer, sondern in der unblutig-ewigen Hinopferung. Auch für den ewigen Christus, das «Lamm wie geschlachtet», zur Schlachtung «ausersehen vor Grundlegung der Welt» (1 Petr 1,20), sind Tod und Auferstehung Existentialien.
Wieder muß dies vor dem letzten trinitarischen Horizont gesehen werden. In der ewigen Seligkeit des dreieinigen Gottes, der von Ewigkeit die Welt will, und der, wie Petrus eben sagte, auch das «Lamm ohne Fehl und Makel» von Ewigkeit her zu deren Erlösung voraussah, ist ewig beides ineinander: die Bereitschaft von Vater, Sohn und Geist zur Verlassenheit des Kreuzes und die Auferstehungsgewißheit, so, daß diese Bereitschaft das trinitarische Leben nicht unterbricht, sondern bis in seine Tiefe ausdrückt. Der Widerhall davon im Leben des Christen findet sich im Evangelium: das Christusleiden kann im Augenblick, da es gelitten werden muß, unerträglich erscheinen, dennoch ist es eingebettet in eine (wenn auch nicht mehr fühlbare) Freude. «Denn das augenblickliche Leichtgewicht der Drangsal wirkt im Übermaß zum Übermaß ein ewiges Schwergewicht an Herrlichkeit für uns» (2 Kor 4,17). «So hat die Frau, wenn es zur Geburt kommt, Leid, da ihre Stunde gekommen ist, hat sie aber das Kind geboren, so denkt sie nicht mehr an die Angst, aus Freude darüber, daß ein Mensch zur Welt gekommen ist» (Joh 16,21). Dieses Mysterium, daß scheinbar unerträgliches Leiden untergehen kann im absoluten Übergewicht der Freude, kann letztlich nicht psychologisch, sondern nur trinitätstheologisch «erklärt» werden.
Eben deshalb sind wir nun aber im Recht, vieles, was Menschen tun, und zwar auch in mannigfachen Religionen und Weltanschauungen treiben, von dem zu unterscheiden, was im Evangelium Kreuzesnachfolge genannt wird.
Was man Askese nennt (askéō heißt sich üben, vor allem für den Sport), erfolgt sehr oft zur Verfolgung eines selbstgesteckten Zieles, das ein hygienisches, ein sittliches, auch ein religiöses sein kann. Die Selbstverleugnung, die vom Christen in der Nachfolge verlangt wird, kann einen Moment der Askese, der Selbstzucht und des bewußten Verzichts auf vieles in sich schließen, aber die beiden Kreise überschneiden sich nur partiell. Möglicherweise ist ein Buddhist, der bestimmte, von ihm als religiös angesehene Ziele verfolgt, ein sehr viel strengerer Asket als der Christ. Aber er strebt nach einem selbstgesteckten Ziel (auch wenn er, um es zu erreichen, die Weisungen eines Meisters befolgt), während das Vorbild Christus ein dem Christen von Gott vorgehaltenes Ziel ist. Dort kann der Verzicht in gewisser Hinsicht Selbstzweck sein (Loswerden von etwas Irdischem, das stört), hier nicht, weil das Kreuz nie Selbstzweck ist, sondern Weg zur Erlösung der Welt oder zur Mit-Fruchtbarkeit mit dem Erlöser zusammen.
Noch weniger wird man deshalb Training mit christlicher Nachfolge verwechseln. Diese fordert gewiß Beharrlichkeit, «Durchhalten bis ans Ende», aber dieses Sorgen dafür, daß man «steht, und nicht etwa fällt» (1 Kor 10,12), ist eine ganz andere Haltung als das Er-üben einer Fertigkeit. Wieder mögen sich die Kreise partiell überschneiden, etwa bei einer geistlichen Übung wie dem Partikularexamen, der beharrlichen Beobachtung, ob man sich laufend anstrengt, einen Fehler zu meiden. Aber der Christ tut das nicht, um sich geistliche Muskeln anzulegen, sondern um Gott weniger zu beleidigen, um näher bei Christus zu sein.
Kreuz und das, was Jesus «das Hassen seiner Seele» nennt, hat ferner nichts zu tun mit Entpersönlichung, die das Ideal östlicher Religionen sein kann, aber auch, auf andere Weise, das eines absoluten Einsatzes für irgendwelche irdischen, zum Beispiel politischen Werte. Eine Bombe auf ihr Ziel zu lenken und mit ihr in die Luft fliegen. Oder sonstwie für eine Parteiparole leben und sterben. Nachfolge Christi ist immer Anruf an eine Person, die gerade durch die Nachfolge ins Kreuz zu ihrer Fülle reift. Der christliche Weg hebt sich hier von den beiden eben geschilderten (unter sich unvereinbaren) Extremen einer Preisgabe der Person ab.
Kreuz als einmaliges geschichtliches Faktum und als dessen Vergegenwärtigung im ganzen Sein der Kirche und des kirchlichen Menschen hat immer etwas zu tun mit dem «für euch», «für die Vielen» der verteilten Eucharistie. Man kann ja sagen, daß dieses «Für-Sein» und somit Kreuz und Eucharistie auch im Leben Jesu von Anfang an als Existential zugegen war («der für uns Menschen und um unseres Heiles willen vom Himmel herabstieg»), als innerer Sinngrund dieses ganzen Daseins, um dann in der Passion seine – freilich unentbehrliche – Ausdrücklichkeit zu erhalten. Wo Christen, wo Menschen überhaupt auferlegtes Leid – auch unbegriffenes – im Geist dieses «Für euch, die Vielen» hinnehmen, erhält das ihr Dasein durchziehende Existential seine Wirkkraft. Tiefer unten, als wo einzelne und endliche Zwecke gesehen und durch Verzicht angestrebt werden. Denn die Zwecke sind, bei allem Einsatz des Strebenden, doch immer darauf aus, das dem Dasein als Wasserzeichen eingeprägte Kreuz auszulöschen, das von allen Horizonten her schreiende, ja brüllende Leid der Menschheit zu überwinden, wenigstens zu lindern, unschädlich zu machen. Aber solches Tun müßte das Pergament des Daseins als ganzes zerreißen, wollte es das eingeprägte Zeichen zum Verschwinden bringen. Denn es ist in dieser von Gott abgewendeten Welt das Signum seiner «bis ans Ende gehenden Liebe» (Joh 13,1).
Die «Spiritualitäten» und das Kreuz
Dort, wo sich innerhalb des einen mystischen Leibes seine Glieder als verschiedene Funktionen des Ganzen, als einzelne Charismen und «Spiritualitäten» differenzieren, muß deshalb das Existential des Kreuzes, das wie der Blutkreislauf zum Gesamtorganismus gehört, jedes Organ gleichmäßig durchbluten. Es darf auch nicht sein, daß in einzelnen Gliedern, die ursprünglich durchblutet waren, mit der Zeit die Adern verkalken und die Gewebe anämisch werden.
Betrachtet man die großen alten Ordensfamilien, so ist ihre ursprüngliche Durchblutung evident, am meisten dort, wo das Kreuz Christi nicht in einem vorwiegend persönlichen Bezug betrachtet und ausgelegt wird – pro me! –, sondern als ein Geschehen, das sich in der Kirche Christi fortsetzt: sie selbst ist gekreuzigter mystischer Leib (und in dieser Hinsicht ungetrennt von Christus zu lieben), und sie kann und wird deshalb auch ihre Glieder zum Kreuz führen, was bei diesen ein sentire cum ecclesia crucifixa voraussetzt und immer tiefer erzeugt. Völlig evident wird dies beim stigmatisierten Franziskus und seiner Verehrung für die amtlich-hierarchische Kirche; nicht minder in dem Orden, dem Caterina von Siena angehört, die die Hochzeitlichkeit des Gekreuzigten und seiner Kirche, dieser immer wieder durch das fließende Blut zu reinigenden Braut, zum Lebensinhalt hat; fraglos ist es für den Orden der Großen Teresa, der vom Seraph Durchbohrten, die ihr Werk als inneren Beistand für die von der Reformation geschwächte Kirche verstand; fraglos für das Werk des Ignatius, bei dem die Livree des geschmähten, in der Verachtung der Welt sterbenden Herrn die Seinen in Jesu Gesellschaft bringt, und dies untrennbar vom «Fühlen mit der heiligen Mutter, der hierarchischen Kirche», wie er sagt. Allen diesen klassischen Spiritualitäten und all den unzähligen, von ihnen abhängenden kleineren geistlichen Familien muß die Frage gestellt werden, ob das sie einst Begründende, Zentrale für sie immer noch Mitte ist, personale und ekklesiale Liebe zu dem bis ans Ende der Liebe Gegangenen, oder ob sie diese Mitte auf die Seite verdrängt und durch etwas anderes, zum Beispiel die «Gerechtigkeit in der Welt», ersetzt haben. Dann wäre ihr Salz schal geworden, und wenn Schales zertreten wird, darf es sich der Märtyrerpalme nicht rühmen.
Aber auch alles, was in neuerer und neuester Zeit als «Spiritualität» hervortrat, darf sich nicht scheuen, unter den Maßstab des Kreuzes zu treten. Die Formen mögen neu zugewachsen sein, echt sind sie nur, wenn der alte und ewig junge Blutkreislauf der Kirche sie einbezogen hat.
Hier läge das entscheidende Kriterium für die große und vielfältige Familie der «Befreiungstheologien». Niemand kann ihnen das Recht absprechen, ein wesentliches Wort im heutigen Weltgespräch mitzureden. Jesus hat in seiner Programmrede verkündet, der Geist des Herrn ruhe auf ihm, damit er den Armen die Frohe Botschaft verkünde, den Gefangenen Befreiung, den Unterdrückten Erlösung bringe (Lk 4,18f.), und am Ende will er uns richten nach den Werken der wörtlich durchgeführten Nächstenliebe (Mt 25). Damit hat Jesus begonnen, aber seine Befreiung war keine politische, sondern eine viel tiefere aus den Ketten des Satans (Lk 13,16), wobei er offenließ, welche politischen Konsequenzen aus seiner Lehre, in seinem Geiste verstanden, gezogen werden. Aber offensichtlich gewann seine Befreiungsaktion am Kreuz ihren Höhepunkt. Hier erst ist der «Fürst dieser Welt» überwunden, hier erst hat er den Geist «der Welt besiegt», der ohne das Kreuz bei jeder innerweltlichen Befreiungsaktion sogleich durch die Hintertür wieder eintritt, wie alle großen politischen Revolutionen der Neuzeit beweisen. Befreiungstheologie wird also nur dann echt katholisch und wirksam sein, wenn sie innerhalb der Dynamik des Lebenskampfes Jesu mitkämpft, die Siege erficht, die ihr verstattet werden, aber nie vergißt, daß alle irdisch-geschenkten Siege Gnaden sind, die vom Gekreuzigt-Auferstandenen gewährt, konzediert werden. Und das nie ohne eigene Teilnahme am Kreuz. Vorbild ist hier die Apostelgeschichte: im Heiligen Geist erringt die Kirche irdische Siege, aber unter den Kreuzesleiden ihrer Apostel.
Dies ist nicht minder eindringlich der ebenfalls weitgestreuten Familie der Pfingstbewegungen vor Augen zu halten. Vor allem dies: daß es keine Spiritualität des Heiligen Geistes als solche geben kann, weil der Geist nie aus «Eigenem redet», sondern immer aus dem, was des Vaters und des Sohnes ist (Joh 16,13-15). Und deren Anliegen ist die Welterlösung durch die schmerzliche väterliche Hingabe des Sohnes in die Kreuzesverlassenheit. An diesem höchsten und letzten Geschehnis war der Geist auch zuhöchst beteiligt; er ist, wie immer, der Geist, der die dreieinigen Heilsbeschlüsse durchführt, ihm ist es auch zu verdanken, daß er die Finsternis zwischen Vater und Sohn um des Heils der Welt willen bis ins Letzte sich auswirken ließ. Die Korinther, diese ersten Pfingstler, rühmen sich, die wunderbaren Gaben des Heiligen Geistes zu haben, Paulus stellt diese ganze Charismatik zuerst in die Lehre vom kirchlichen Leib Christi zurück und mißt jedes Charisma am effektiven Nutzen für die Gemeinschaft (1 Kor 12), dann relativiert er alle Charismen auf die christliche und zwar gekreuzigte Liebe hin: «Die Liebe erträgt alles, duldet alles» (Kp. 13), schließlich gibt er verbindliche Anweisungen für die Praxis des Gottesdienstes: nur was echte Auslegung der evangelischen Lehre Christi ist und in diesem Sinn Prophetie, dient dem Aufbau, alles andere macht die Gemeinde vor den Außenstehenden nur lächerlich (Kp. 14). Und er schließt: falls jemand irgendein Geistcharisma zu besitzen meint, «so soll er anerkennen, daß, was ich euch schreibe, ein Gebot des Herrn ist. Erkennt er das nicht an, so werde er auch nicht anerkannt» (14,37f.). Am Anfang des Briefes hatte er die ganze Gemeinde unter das ausschließliche Gesetz des Kreuzes gestellt (1,19-2,2), in der Torheit des Kreuzes liegt die wahre Weisheit, liegt auch der «Erweis von Geist und Kraft», hier hat die tiefere Wahrheit, die Paulus für sich beansprucht (2,6), ihre wahre Mitte; denn der «Geist, der die Tiefen der Gottheit durchforscht» und der den Christen geschenkt ist, findet in der tiefsten Tiefe nichts anderes als die unauslotbare trinitarische Liebe, die sich voll in Kreuz und Eucharistie offenbart.
Man weiß, welch begeisterte Aufnahme die östlichen Meditationsmethoden, besonders Za-Zen bei vielen Christen in Europa und USA gefunden haben, bei Ordensleuten beider Geschlechter wie bei Laien, daß ganze «Exerzitienhäuser» eigens für solche Meditation eingerichtet wurden, daß ferner Texte klassischer christlicher Mystik (die altenglische «Wolke des Nichtwissens», Eckhart, Tauler, Johannes vom Kreuz u. a.) mit Vorliebe für solche Übungen benützt werden, die damit den Leuten leichter als christlich insinuiert werden können. Ist nicht gerade das in der «Wolke», bei Tauler und dem großen Spanier als «dunkle Nacht» gekennzeichnete Stadium dasselbe, was bei den Meditationsübungen erlebt wird? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Ganz gewiß nicht. Die «Nacht», die in den östlich inspirierten Übungen erfahren wird, ist Ergebnis eines Trainings, etwas, das der Mensch durch systematische Abstraktion und Konzentration selber erreichen kann. Was ein Johannes vom Kreuz als «noche oscura» zeichnet, ist – trotz seiner vielleicht nicht immer ganz eindeutigen Erklärungen dazu – nichts anderes als Teilnahme eines Begnadeten an der Gottverlassenheit Christi am Kreuz. Ein über die Maßen furchtbares Erlebnis, das im Bewußtsein gipfelt, Gott für immer verloren zu haben. Eine Erfahrung, die nicht primär für die Läuterung der Seele gegeben wird (worauf Juan den Ton legt), sondern um des Heils der Welt willen. Nirgends vielleicht wird so eindeutig wie hier das wahre Kreuz Jesu zum Prüfstein dafür, ob eine Spiritualität christlich ist oder nicht. Denn das wahre Kreuz kann nur ein auferlegtes, niemals ein selbsterklommenes sein; niemals ein Zustand der Ruhe, nur einer der äußersten Angst, daß alles verloren ist: Gott sowohl wie das Heil der Welt. Es gibt neue Spiritualitäten, die ausdrücklich und bewußt diese Liebe in den Mittelpunkt stellen. Die Focolarini zum Beispiel. Das wird solange glücken, als der ganze Ernst und die erschreckende Nüchternheit der Liebe des Gekreuzigten zu uns nicht verharmlost werden in einen allzu menschlichen, primär zwischenmenschlichen Liebesenthusiasmus; das Kreuz ist nicht Gefühl (sogar der Verzicht auf jedes Gefühl bis in den Abgrund der Verlassenheit), sondern reine und einsame Tat. Die Gründerin weiß um diese gekreuzigte Mitte der Liebe. Ihr Wissen müßte den ganzen Organismus ihrer Gründung durchleben.
Die große kirchliche Bewegung, die sich Comunione e Liberazione nennt und abertausenden von jüngeren und älteren Christen die lebendige Erfahrung des Kirche-Seins wiedergegeben hat, ein sichtlich vom Segen Gottes begleitetes Werk, kann auf die Dauer nur Bestand haben, wenn in und hinter und unter der Erfahrung von befreiender Kommunion der Kirchenglieder die tiefste Kommunion und Befreiung im Kreuz – das furchtbar vereinsamen kann – begriffen und durchgestanden wird. Zum Glück pflegen die Mitglieder eifrigen Kontakt mit den gekreuzigten Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang: wenn sie diesen das stärkende Bewußtsein der kirchlichen Kommunion vermitteln, dürfen und müssen sie von ihnen die heroische Kraft der Kreuzeseinsamkeit lernen. Das gelingt nur in der Pflege dauernden Gebetes.
Im Mittelpunkt des weltumspannenden «Werkes Gottes» (Opus Dei) steht eine sich ausdrücklich nach dem Kreuz benennende Priestergemeinschaft. Der Eifer für die Ausbreitung des Reiches Gottes, ein eher selten gewordenes Stehen auch zur Kirche als Institution, das Bestreben, alle weltlichen Strukturen christlich zu durchdringen, sind hier unverkennbar. Man darf aber auch dieser gewaltigen Organisation zur Selbstprüfung die Frage vorlegen, ob das Kreuz Christi in ihr theologisch umfassend genug gesehen wird und nicht allzu vorwiegend asketisch, ob auf tiefe Theologie überhaupt hinreichend Gewicht gelegt wird, die zentral eine solche des Kreuzes und der Auferstehung sein muß, und zwar, meine ich, im Sinne des Mannes von Loyola: als Nachfolge in die Schwachheit, die Verfolgung, den Mißerfolg, in alles, was die echte Gesellschaft Jesu verhindert hat, das zu werden, als was ihre Gegner sie ansehen: ein bloß militärisch organisierter Kampftrupp des Papstes.
Natürlich gäbe es noch viele alte und neue «Spiritualitäten» zu betrachten und zu befragen. Manche, wie der wahre Geist Charles’ de Foucauld oder der Mutter Teresa, bedürfen nicht erst solcher Befragung. Aber das Gesagte mag hier genügen. Doch ist abschließend noch einmal auf die große Gefahr hinzuweisen – die Paulus auch den Korinthern vorstellt –, daß die Glieder meinen, einander nicht zu bedürfen. Daß die geistlichen Familien, die nichts anderes sein dürfen als ein Stück lebendige Kirche, sich sektenhaft isolieren und damit die wahre Katholizität, die sie ausdrücken sollten, nicht zum Tragen und Leuchten bringen. Die Gefahr bestand immer schon, aber früher (etwa in der benediktinischen Großfamilie) viel weniger als bei den neu aufkommenden Bewegungen. Die sogenannte «Linke» in der Kirche bildet bei aller Formlosigkeit im einzelnen wenigstens negativ, in der Ablehnung von Dogmatismus und Zentralismus, eine nicht zu übersehende Einheit. Was man mißverständlich als die «Rechte» bezeichnen kann, ist allzusehr in Einzelfamilien aufgesplittert, deren jede zunächst eifrig für sich selber wirbt. Nicht überall mit gleicher Verve und Konsequenz – manche sind offener als andere –, aber eine Tendenz ist unverkennbar. Alldem gegenüber darf das Bild derer vorgehalten werden, deren sechshundertjähriger Todestag heuer gefeiert wird, der Mantellatin aus Siena, die nur für Christus und seine mystische und hierarchische Kirche gelebt, gelitten und geblutet hat, deren höchste Sehnsucht es war, ihr eigenes Blut mit-leidend beigemischt zu sehen dem alles läuternden und belebenden Blut des Gekreuzigten.
- Über den frühen Zeitpunkt dieser Synthese vgl. Martin Hengel, Der stellvertretende Sühnetod Jesu. In In Internat. kath. Zeitschrift Communio (Köln) 1/80, S. 1-25 und 2/80, S. 135-147.↩

Hans Urs von Balthasar
Original title
Alle Wege führen zum Kreuz
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Specifications
Language:
German
Original language:
GermanPublisher:
Saint John PublicationsYear:
2025Type:
Article
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